Der französische Schriftsteller Gustave Flaubert wurde am 12. Dezember 1821 geboren – vor 200 Jahren. Nach wie vor gehört er zu den Überragenden seiner Klasse. Besonderes Augenmerk wird hier auf seine umfangreiche Korrespondenz gelegt. 4500 Briefe sind erhalten, die ihn als begnadeten Briefschreiber zeigen.

Von Aurel Schmidt

Heute ist der 12. Dezember. Kein besonderer Tag, es sei denn, dass an diesem Tag vor zweihundert Jahren der französische Schriftsteller Gustave Flaubert geboren wurde und Gedenktage wie dieser gern benützt werden, um das Gedächtnis ein wenig aufzufrischen. Was bei Flaubert wiederum reichlich überflüssig ist, da er mit Balzac und Zola einer der drei grossen Autoren Frankreichs im 19. Jahrhundert war. Es ist ein Spiel zum Mitmachen. Sei es drum.

Die angegebene Zeitmarke könnte nach alten muffigen Kleiderschränken auf dem Dachboden riechen. Doch wer nur ein wenig über die Sprach- und Stilbesessenheit des Autors auf dem Laufenden ist, wird sich nicht abhalten lassen, kurz bei Flaubert vorbei zu schauen, zumal aus gegebenem Anlass einiges Neues von und über Flaubert erschienen ist.

Beginnen wir mit Flauberts Erstling. Mit 15 Jahren begegnete der junge Gustave während der Ferien in Trouville einer wunderschönen Frau. Sie war dabei, ihrem Kind die Brust zu geben. Der junge Erzähler wurde in einen Sinnestaumel gerissen, eine Verzauberung erfasste ihn. In der Figur des jungen Mannes ist Flaubert selbst zu erkennen, während die Frau im wirklichen Leben Elisa Schlésinger, die Frau des Musikverlegers Maurice Schlésinger, war, mit der Flaubert lebenslang in Verbindung blieb. Ihre Erscheinung veranlasste ihn, seinen ersten Roman mit dem Titel „Memoiren eines Irren“ zu schreiben, in dem die Frau als Marie vorkommt. Sie ist auch das Vorbild für Marie Arnoux im Roman „Lehrjahre des Gefühls“ oder „Lehrjahre der Männlichkeit“, wie die Flaubert-Übersetzerin und -Kennerin Elisabeth Edl vorschlägt, was eine nicht unproblematische Übersetzung ist, über die es einiges zu sagen gäbe. Aber nicht hier. Vielleicht bei einer anderen Gelegenheit.

Früher und später Flaubert

Wir verharren also bei den „Memoiren eines Irren“ und graben weiter. Die von sich erzählende Figur ist von Verdruss, Abscheu, Ekel des Lebens erfüllt, wobei man sich fragen muss, wie ein junger Mensch zu solchen düsteren Ansichten gelangen konnte. Wolfgang Matz, der Autor des Nachwort, spricht von “pubertärer Lebensmüdigkeit“, zitiert Byron und Goethes „Werther“ und gibt als zeitlichen Hintergrund das erstickende Juste-Milieu an, die Herrschaft Louis-Philippes, der sogenannten Bürgerkönigs. Auch im „mal de siècle“, im romantischen Weltschmerz, dem Begriff für den Geisteszustand der Epoche, müsste die Lage von Flauberts Figur situiert werden – und seine eigene. Der explizite Sarkasmus und Dégout wechselt mit reinen Liebesgefühlen ab. Man darf nicht vergessen, dass es ein Fünfzehnjähriger war, der dieses Buch, das notdürftig für den Verkauf zu einem „Roman“ geliftet wurde, geschrieben hat.

Zugleich sind in dem Buch schon die Züge Flauberts in seinen besten Lebensjahren zu erkennen. Wenn der junge Gustave einen Satz schreibt wie: „Mein Leben ist mein Denken“, trifft er damit genau Flauberts Vorstellung des Lebens als Künstlers, der alles für sein Werk aufwendet, auch wenn die Arbeit an Sprache, Stil, Form, Ausdruck ihn gelegentlich an den Rand der Erschöpfung bringt. Bei der Korrektur eines einzigen Wortes im Text unterzog Flaubert sich der Aufgabe, viele Seiten vor dem Eingriff und viele danach wiederzulesen, um zu sehen, ob die Ordnung der Sprachkomposition immer noch stimmte. Das war seine Arbeitsweise. Auch das oft wiederkehrende Gefühl, am Ende nicht erreicht zu haben, was er sich vorgenommen hatte, das Flaubert lebenslang nicht verliess, ist im Griff nach dem Unmöglichen, der aussichtslosen Liebe des jungen Autors der „Memoiren eines Irren“, antizipiert.

Das hier besprochene Frühwerk wird die letzte Veröffentlichung von Werken Flauberts in einer Übersetzung von Elisabeth Edl bei Carl Hanser sein. Andere Prioritäten im Klassik-Programm sind vorgesehen. Der Karthago-Roman „Salammbô“ wird es also nicht mehr zu „edlen“ Ehren schaffen. Und was ist mit Flauberts letztem Werk, „Bouvard und Pécuchet“? Es lag einmal in einer reich annotierten, fabelhaften, von Hans-Horst Henschen besorgten Edition samt Ergänzungsband im Eichborn Verlag vor. Wo ist dieser komische, an den Grundfesten der Wissenschaft rüttelnde Angriff auf die Dummheit geblieben? Er hat sich in Luft aufgelöst, wird wie vieles den Weg ins Antiquariat gefunden haben und dort auf eine Wiederbelebung, eine Renaissance, warten.

Flaubert als Briefsteller

Als Meisterstück im Korpus der Werke Flauberts steht dessen umfangreiche Korrespondenz, die als eigenständiger Teil des gesamten literarischen Schaffens betrachtet werden sollte. 4500 Briefe sind überliefert, einige übersetzt, da und dort auch erschienen. Für die Arbeit an seinen Romanen und Reisewerken brauchte Flaubert unglaublich viel Zeit. Regelmässig führte er beredte Klage über seine Mühen. „In vier Tagen habe ich fünf Seiten geschrieben“, nicht sehr viel, klagte er einmal seiner Geliebten Louise Colet. Die Briefe, in seiner kleinen, sehr persönlichen, fast zierlichen kalligrafischen Schrift verfasst, scheinen ihm im Unterschied dazu leicht von der Hand gegangen zu sein.

In seinem Verlag hat Gerd Haffmans vor vielen Jahren in gesammelter Form die Briefwechsel herausgegeben, die Flaubert mit Louise Colet, den Brüdern Goncourt sowie mit dem Schriftsteller Guy Maupassant unterhielt. Diesen Maupassant nannte Flaubert, der selbst viel älter war, einmal seinen „Schüler“ und „Sohn“ genannt – „Sohn“ natürlich in einem übertragenen Sinn gemeint, aber vielleicht nicht nur. Es gibt über das „Sohn“-Verhältnis weitergehende Spekulationen, die der französische Flaubert-Kenner Jacques-Louis Douchin in seinem Werk “La Vie érotique de Flaubert“ angestellt hat. Aber auch das gehört nicht zum heutigen Thema. Was hingegen den Briefwechsel mit Louise Colet angeht, kommt ihm höhere Bedeutung zu, weil er in die Zeit fällt, als Flaubert „Madame Bovary“ schrieb, und er über den Entstehungsprozess Aufschluss von höchstem Wert erteilt.

Die fehlende Frau

Noch etwas ist zu den Briefen zusagen. Die Aussagen sprudeln munter drauf los, parlierend, abschweifend, wie es gerade kommt, so wie heute etwa ein Telefongespräch geführt wird. Und als Plauderei hat Flaubert selbst sie auch aufgefasst, wie er in einer Nachricht am 30. März 1857 an Marie-Sophie Leroyer de Chantepie, seine „liebe Freundin“, die selbst Literatin war wie Louise Colet oder George Sand, zugegeben hat.

Ausserdem stellte Flaubert sich gern als „Bär“, auch „Höhlenbär“ dar. Er liebte es, dieses Bild von sich zu verbreiten, aber es stimmt nicht. Auch ein innerer Emigrant war er nicht. Nach der Veröffentlichung von „Madame Bovary“ und dem Skandal um das Buch war Flaubert eine öffentliche Figur, die mit einem grossen Freundes- und Bekanntenkreis verkehrte. Zum Beispiel nahm er regelmässig an den Soireen der Prinzessin Mathilde, der Kusine Napoleons III, teil, wo er nach Erscheinen seines Romans „Salammbô“ den Gästen daraus vorlas.

Flaubert hatte eine Wohnung in Paris, verbrachte jedoch oft mehrere Wochen in Folge in Klausur in Croisset ausserhalb Rouen im Haus seiner Eltern (nur der der Gartenpavillon ist übriggeblieben). Hier arbeitete er während Wochen zurückgezogen und konzentriert: schreibend, meist bis drei Uhr morgens, und Berge von Bücher lesend; zwei in der Wochen war der Durchschnitt.Nicht unverständlich, dass unter diesen Umständen die Korrespondenz ein Versuch war,  die Beziehung zur Aussenwelt aufrecht zu erhalten; drei bis vier Briefe konnten es zu gewissen Zeiten täglich durchaus sein.

Im Haus anwesend waren eine Haushälterin, ebenso Flauberts früh verwaiste Nichte Caroline sowie deren englische Gouvernante. Sie hiess Juliet Herbert. Zu ihr unterhielt Flaubert während vieler Jahre eine unmissverständliche Beziehung, nicht nur während ihres Aufenthalts in Frankreich, sondern auch später in London, wo er sie wiederholt besuchte. Aus vielen Details kann dieses Verhältnis nach detektivischer Methode rekonstruiert werden. Es ist zum Beispiel bekannt, dass Flaubert bei ihr Englischunterricht nahm. Was für ein Bild, sich die beiden am Küchentisch sitzend vorzustellen und sie ihn die Konjugation von Verben abzufragen. Dass Flaubert nicht mit ihr in Briefverkehr gestanden haben soll, scheint höchst unwahrscheinlich. Aber wenn es doch so war, wo sind die Briefe dann geblieben? Es gibt keine Spur von ihnen, und es muss angenommen werden, dass sie vernichtet wurden. Tatsächlich ergibt sich daraus in Flauberts Leben und Schaffen eine grosse Lücke.  

Das grosse Thema: die Dummheit

Noch ein zweites immer wiederkehrendes Thema lässt sich in der Korrespondenz herausdestillieren: die Wut, die Empörung, der Hass des berühmten Schriftstellers auf die Dummheit, la bêtise, häufig garniert mit drastischen Ausdrücken, besonders im Verkehr mit den alten Kumpanen. Am 30. September 1855 erreichte die folgende Botschaft den engsten der Freunde, Louis Bouilhet: «Ich fühle Fluten des Hasses gegen die Dummheit meiner Epoche in mir, die mich ersticken. Die Scheisse steigt mir in den Mund wie bei einem verklemmten Bruch. Aber ich will sie aufbewahren, hart und fest machen. Ich will einen Teig daraus formen, mit dem ich das 19. Jahrhundert beschmieren werde, wie man indische Pagoden mit Kuhfladen vergoldet» (in der Übersetzung von Dolf Oehler). Hunderte solcher Belege können angeführt werden. Am 25. Januar 1880 klagte Flaubert Edma Roger des Genettes, einer seiner wichtigen Korrespondentinnen im Alter: „Die Unerträglichkeit der menschlichen Dummheit ist bei mir zur Krankheit geworden.“

Nicht vergessen: Der repetitive Sturmlauf gegen die Dummheit ist das Thema des Romans „Bouvard und Pécuchet“, für dessen Vorbereitung Flaubert 1500 Bücher gelesen haben will, aus denen er besonders einfältige, stupide, bescheuerte Stellen herausdestillierte, kopierte, aufbewahrte und später in einem Zusatzband herausgeben wollte, dem berühmten „Second volume“. Die Exzerpte werden in der Bibliothek von Rouen aufbewahrt und sind nur partiell veröffentlicht, auf Deutsch sogar in einem grösseren, zusammenhängenden Umfang als auf Französisch: dank der Übersetzertätigkeit des schon gewürdigten Hans-Horst Henschen.

Ein Höhlenbär war Flaubert also nicht, eher ein Brummbär. Und vor allem ein Monstrum. Was vielleicht genau der Grund ist, warum er so viel Zustimmung und Beifall erwarten kann, wenn man seinen Briefverkehr heute, in unserer überkorrekten Zeit, liest. Flaubert schrieb schlagfertig, pointiert, witzig, angriffig, ausschweifend, polternd, zornig, mit röhrendem Lachen, direkt, unumwunden, unverblümgt – eine breite Skala von Gefühlen kommt zum Klingen. Im Verkehr mit Frauen, vor allem seiner geliebten Nichte Caroline, zeigte er sich liebevoll, aufmerksam, verständnisvoll. Und mit seinen Kolleginnen führt er intelligente Auseinandersetzungen.

Neue Briefauswahl: Familiärer Flaubert

Die beste Briefauswahl in deutscher Übersetzung ist in der Ausgabe von Helmut Scheffel 1964 beim damaligen Goverts Verlag zu finden, die später Diogenes in sein Programm übernommen hat. Sie umfasst etwa ein Zehntel des ganzen Briefwerks, für das in der französischen Pléiade-Ausgabe fünf Bände mit 5000 Seiten eingeräumt sind. Einen neuen Vermittlungsversuch hat jetzt der Dörlemann Verlag unternommen, bei dem Cornelia Hasting eine eigene Selektion eingerichtet hat, wahrlich keine einfache Sache bei diesem Fundus. Hasting hat früher bereits die Korrespondenz Flaubert-Colet ediert (und einiges anderes), wird also mit der Problemlage vertraut sein. Hier hat sie einen fast familiären Flaubert aus der Kiste gezaubert, den es auch gibt, wenn auch auf Kosten jener Passagen, in denen er die Fragmente seiner Poetologie ausbreitet.

Zum Beispiel nimmt Hasting den Brief vom 30. März 1857 an Marie-Sophie Leroyer de Chantepie auf, in dem Flaubert zu seiner Kollegin wie ein nachdenklich nickender Psychiater spricht. Dafür fehlt der wichtige Brief von kurz davor, vom 18. März 1857, an die gleiche Adressatin, in dem Flaubert das Prinzip der Unpersönlichkeit erklärt, das für ein Kunstwerk konstitutiv zu gelten habe: „Der Künstler muss in seinem Werk wie Gott in der Schöpfung sein, unsichtbar und allmächtig; man soll ihn überall spüren, ihn aber nirgends sehen.“ Denn in Kunst und Kreation soll gelten: "Der Mensch ist nichts, das Werk ist alles" (Flaubert im Dezember 1875 an George Sand).

Dass ein Verlag auf die Idee kommt, heute ein Projekt wie dieses zu lancieren, ist fast unglaublich. Unglaublich bemerkenswert. Nur ist leider die verstreute Publikation der Briefe bei fünf verschiedenen Verlagen in höchstem Mass unbefriedigend. Wie müsste, wie könnte eine Lösung aussehen? Die Briefe, die den „Memoiren eines Irren“ nachgeschoben wurden, hatten nur den Zweck, dem Band etwas Körper, Kapazität, Konsistenz zu verleihen. Lassen wir das. Inzwischen hat sich gezeigt, dass Flaubert ein Archiv, ein Depot, ein Universum ist: ein Netz, in dem man unendlich surfen kann. Alles ist längst über ihn gesagt, doch immer noch gibt es neue Entdeckungen zu machen und neue Zusammenhänge, die superb, exzeptionell sind – was für ein Kontrast zur digitalen Kloake, die jede geistig gebildete Arbeit hintertreibt, um Flauberts Diktion zu adaptieren. Für alle Lesekundigen liegt ein unendlich intelligentes Vergnügen vor. Es lebe Flaubert! Es lebe die Flaubertologie!




12. Dezember 2021