Von Patagonien sprechen heisst oft, von einem Mythos sprechen. Die Region wird aber weniger von wohlhabenden, nicht selten amerikanischen Latifundien-Besitzern und Luxus-Gauchos beziehungsweise touristischen Highlights geprägt , sondern mehr von Menschen, die hart arbeiten und mit wenig zufrieden sein müssen. Wenn sonst der Glamour der einen Seite dominiert, dann soll hier die andere, die authentische Seite in den Mittelpunkt gerückt werden. Der in lockerer Erzählform geschriebene Beitrag besteht aus den zwei Teilen „Mythos und Realität in Patagonien“ und „Alltag in einem fernen Land“. Er beschreibt zugleich eine Reise in die eigenen Erinnerungen.

Von Aurel Schmidt (Word) und Karl-Heinz Raach (Visual)

 

Erster Teil
Mythos und Realität in Patagonien
Bruce Chatwins Narrativ über Patagonien – Darwin und die Evolutionstheorie – Amerikanische Banditen in Colila – Viele Ortschaften liegen Kilometer auseinander – Leben in der Einsamkeit – Irrfahrt durch Chubut – Über die Bedeutung der Schafzucht für Patagonien – Ankunft in Gastre Dreissig Jahre sind vergangen. Seither sind Räume und Zeiten schwankend geworden, und niemand weiss, ob es zulässig ist, sich noch auf sie zu berufen. Vieles ändert sich, alles bleibt trotzdem gleich. Vor vielen Jahren genoss Bruce Chatwins Buch über Patagonien einen Nimbus, der weit über die Realität, auf die er sich beruft, hinausreichte. Es war ein gewaltiger Erfolg gewesen, der viel zur Bildung eines Patagonien-Mythos wesentlich hatte.

 

Provinz Chubut, Argentinien: Weites offenes Land.
Das ist Patagonien
Alle Fotos Copyright Karl-Heinz Raach


Die oft beschworene Eintönigkeit der patagonischen Landschaft ist ein Topos. Trotzdem ist sie in der Lage, einen enormen Überschuss an Imaginationskraft zu mobilisieren, auch ohne dass es für einen interessierten Beobachter erforderlich wäre, je vor Ort gewesen zu sein. Die Vorstellungskraft sprengt alle Grenzen, der Horizont wird überschritten. Patagonien ist der Aufstand gegen die Komfortzone – warum es nicht so sagen?

Von Eintönigkeit der Landschaft haben viele Reisende, die von dort zurückgekehrt sind, berichtet. Aber stimmt diese Aussage auch? Wüsten wie Patagonien und andere regen die Imagination ungleich stärker an als bunte, blühende, üppige, spriessende Landstriche. Auf seiner Reise mit der Beagle von 1831 bis 1836 um die Welt hatte der prominenteste Mitreisende und begleitende Naturforscher, Charles Darwin, die Mapuche, die Bewohner im südlichsten Teil Südamerikas, teilnahmslos und apathisch gefunden und sich gewundert, dass diese „Geschöpfe“, wie er sagte, „unsere Mitmenschen“ sein sollen. Im südlichsten Teil Patagoniens ebenso sehr wie auf den Galapagosinseln wurde die Grundlage seiner Lehre vom Survival of the fittest, der Evolutionstheorie, gelegt. Das sollte man nicht vergessen.

Darwins trostlose Landschaft

Wie viele Reisende vor und nach ihm, hatte Darwin die patagonische Landschaft öde und trostlos gefunden, aber sich am Ende seines Reiseberichts gefragt, warum die Ebenen Patagoniens trotzdem so „häufig vor meinen Augen erscheinen“ würden und ausgerechnet „diese dürren Wüsten“ bei ihm einen starken Eindruck hinterlassen hatten. Die Folgen wollte er darin erblickt haben, „dass hier der Einbildung volle Freiheit gelassen ist“.

Der englisch-argentinische Schriftsteller und Ornithologe William Henry Hudson (1841-1922) hat später in seinem Buch “Müssige Tage in Patagonien“ Darwins Überlegungen durch seine eigenen fortgesetzt. Er nahm an, dass selbst in der kargen Natur eine Vergangenheit liege, die in den Menschen lebendig sei und noch Tausende Jahre nachwirken würde.

Im Bund der Autoren, die über Patagonien geschrieben haben, darf natürlich Bruce Chatwin nicht fehlen, um den kaum ein Autor herumkommt, der selbst über Patagonien geschrieben hat oder schreiben will. Warum? Weil er Massstäbe gesetzt hat. Sein legendäres Buch „In Patagonien“ (1977) verbindet literarischen Exkurs mit Essay, Reisebericht und geschichtlichem Rückblick etwa auf die Abenteuer der beiden nordamerikanischen Outlaws, Bankräuber und Viehdiebe Butch Cassidy und Sundance Kid, die fünf Jahre friedlich in Cholila im Nordwesten der Provinz Chubut verbrachten; Caliban, das Ungeheuer in Shakespeares „Ein Wintermärchen“, ist patagonischer Provenienz. Zusammengehalten wird das Ganze durch die Erlebnisse Chatwins, die teilweise ebenso phantastisch wie verschroben sind. Ihre Authentizität wird inzwischen und zu Recht angezweifelt. Immerhin gibt das Buch eine fiktive Lektüre her, die so extrem ausfällt wie die Extreme der patagonische Landschaft.

Die Autoren des vorliegenden Textes, Aurel Schmidt in Basel und Karl-Heinz Raach, Fotograf in Sölden in der Nähe von Freiburg im Breisgau, hatten beide Chatwin gelesen und versucht, sich eine Vorstellung von Patagonien zu machen: offenes Land bis an den Horizont; karge, steinige, dürre Landschaft; der Boden bedeckt mit einer Pflanzenart, die einen „bitteren Geschmack ausströmt“, wie Chatwin bemerkte. Aber nicht an dessen Ansichten wollten wir uns halten, sondern eine Vorstellung ausbreiten, die auf eigenem Augenschein beruhte.

Wir schlossen mit einer grossen deutschen Tageszeitung einen Vertrag für eine grosse Reportage ab (was damals noch möglich war) und machten uns Mitte November 1993, zu Beginn der Sommerbeginns auf der südlichen Hemisphäre, auf den Weg. Was hier folgt, ist der Versuch, die Fahrt von vor dreissig Jahren mit den Augen von heute, also mit einem selbstreflexiven Blick, zu wiederholen und in einer narrativen Form wiederzugeben.

Erste Begegnung mit dem Wind

Unsere Absicht war damals, eine kleinere Ortschaft zu suchen, dort einen Stützpunkt einzurichten und von dort zu versuchen, einen Eindruck des Lebens in Patagonien zu gewinnen. Das war eine Fehlüberlegung gewesen. Es gibt in Patagonien bis auf einige grössere Städte nur kleinere Ortschaften, die das Verwaltungszentrum eines grösseren Gebiets bilden, aber meistens Dutzende von Kilometer auseinander liegen. Verstreut dazwischen liegen zahlreiche grössere und kleinere Estancias (Landgüter), die von den Hauptverkehrswegen abzweigen und tief ins Hinterland führen. Betrieben wird dort Schafzucht. Bäume sind eine Seltenheit, ausser am Abhang der Kordillere und in der Nähe der Niederlassungen zum Schutz gegen den Wind. Mit diesen Angaben kann man sich einen Begriff von der Weite des Landes, der geringen Fruchtbarkeit der Böden und der niedrigen Bevölkerungsdichte machen.

Aber eins nachdem anderen. Wir landeten am frühen Morgen in Buenos Aires, wechselten vom internationalen zum nationalen Flughafen und flogen sofort weiter nach Trelew, einer Stadt mit heute 100'000 Einwohnern in der Provinz Chubut (deren Hauptstadt Rawson ist). In einem Lokal an der Plaza Independencia wehte der Wind die leeren Bierdosen Marke Quilmes Cristal und leeren Mineralwasser-Flaschen von den Tischen. Wenn das eine Feststellung im anekdotischen Stil von Chatwin sein sollte, dann wird es hier garantiert die letzte sein. In Wirklichkeit war es für uns die erste Begegnung mit dem mal launischen, mal wütenden Wind, der in Patagonien über die Ebenen fegt und uns Tag für Tag begleiten sollte.

Wir tranken aus, stiegen in unser Mietauto und machten uns auf den Weg nach Westen, quer durch den südamerikanischen Kontinent, Richtung Kordillere in einigen hundert Kilometer Entfernung.

Es wurde Abend. In Dolavon erblickten wir ein Hotel, mussten aber feststellen, dass es nicht in Betrieb war. Der Mann am Empfang zeigte seine schlechten Zähne, wenn er lachte.

Und das nächste Hotel?“, fragten wir.

In Trelew.“

Von dort kommen wir. Wir fahren in die andere Richtung.“

Ach so. Dann in Las Chapas. Hundert Kilometer von hier.“

Einsames Leben in grandioser Landschaft

In Las Chapas gab es natürlich auch kein Hotel. An der Zapfsäule des Orts riet uns der Tankwart, es in dem kleinen Ort mit dem Namen Dique Ing. F. Ameghino in der Nähe (30 Kilometer entfernt) zu versuchen. Die Ortschaft (300 Einwohner) lag am Fuss einer Staumauer, die das Wasser für ein Elektrizitätswerk staut und zugleich den Flusslauf des Rio Chubut reguliert. Tatsächlich gab es ein hospedaje, ein einfaches Hotelchen und einen Comedor mit Plastiktüchern auf den Tischen. Serafin Cobo war 72 Jahre alt, seine Frau Maria schlurfte in Scheuerlappen über den Fussboden. Die beiden kümmerten sich um die Gäste. Die einzigen waren an diesem Tag wir, aber am darauffolgenden sollte ein Asado, ein Barbecue, gegeben werden. Die geschlachteten Schweine hingen schon im Schuppen. Zu essen gab es Huhn und Frites, zu trinken Bier. Der Fernseher lief, aber der Empfang wegen der Ortslage katastrophal.

Am folgenden Morgen machten wir uns bei Zeiten auf den Weg und erreichten abends Esquel. Auf den umliegenden Gipfeln lag Schnee. Es war bitter kalt. Im Hotel war die Heizung angestellt. Im Essraum briet der Koch riesige Steaks, die auf den Tellern über den Rand ragten. Wir waren durch mehrere kleinere Ortschaften gekommen, aber keine entsprach unserer Vorstellung.

Am darauffolgenden Tag kamen wir am Zaun seines Anwesens mit einem älteren Mann ins Gespräch. Er lebte hier allein in einem einfachen bescheidenen Holzhaus und hatte jeden Morgen eine ungestörte, grandiose Landschaft vor Augen mit Bergen, Seen und mit Wäldern, die hier am Abhang der Kordillere vorkommen. Auch hier machten wir eine erste Erfahrung, wie Menschen in diesen Gegenden oft leben, fern jeder zivilisatorischen Bequemlichkeit. Das Leben ist einfach, es ist hart, es verlangt einen hohen Einsatz, aber es hat weitgehend mit den essenziellen Dinge des Lebens zu tun. Das ist ungleich wertvoller als die hektischen Beschäftigungen in den Städten im Norden. Noch oft sollten wir unterwegs diese Einstellung antreffen.

Kreuz und quer durch Chubut

Der Wind heulte in den Bäumen. Das Wetter, das Chile am andinen Westabhang fruchtbaren Regen bringt, endet am Ostabhang in Argentinien mit böigen Winden, die an den Nerven zerren, besonders wenn man noch nicht die Bekanntschaft mit ihm gemacht hat. Karl-Heinz hatte ein paar Aufnahmen von der Umgebung gemacht, und der Mann, dem die Jahreszeiten mit dicken Falten ins Gesicht geschrieben standen, kam an den Zaun, als er uns erblickte. Viele Reisende kommen hier nicht vorbei. Wie erleben die Menschen diesen Wind, und wie leben sie in dieser isolierten Gegend?

Uuuh.“ Kein Wort mehr.

Aber natürlich war es für ihn nichts Ungewöhnliches. Trotzdem hüllte er sich mitten im Frühsommer in eine dicke wattierte Jacke. Es gibt keine angemessene Sprache, nur ein Beben, Schaudern, Stammeln, um die Verlassenheit, Einöde, wechselnden Witterungszustände, den Lauf des Lebens zu beschreiben und zu sagen: Das ist Patagonien. Trotzdem schätzte er dieses Leben. Wir hatten nicht viel gesprochen und dennoch, dachten wir, einen ersten, anschaulichen Begriff des Lebens in diesen Breitengraden erhalten.

Was in den darauffolgenden Tagen geschah, war ein kilometerlanges Umherirren in Chubut auf der Suche nach unserem idealpatagonischen Ziel. Wenn die Route, die wir nahmen, auf der Landkarte eingezeichnet würde, könnte man sich ein Bild von ihrem Zickzack-Verlauf durch Chubut machen. Karl-Heinz erwartete Dörfer, aber es kamen nur Tankstellen. Wir übernachteten in Gobernador Costa, Rio Mayo, Tecka. Die Preise für Essen und Übernachtung wurden immer billiger, unsere Gesichter immer länger.

Einführung in die Schafkunde

An der Ausfahrt von Gobernador Costa stiessen wir auf ein Schild, das auf eine Fleischfabrik aufmerksam machte.

MUNICIPALIDAD DE Gdor COSTA
PLANTADE PRODUCTOS CARNEVOR

Der Patron, dessen Eltern aus Udine in Italien eingewandert waren, wollte uns die Anlage zeigen und fing an, von der Schafzucht zu erzählen. Der Boden ist extrem unproduktiv. Was hier wächst, sind niedriges Buschwerk, Dornengestrüpp und eine coiron genannte Grasart, von der die Schafe sich ernähren. Das einzige, was hier in Frage kommt, ist Schafzucht. Sie ist der wichtigste Erwerbszweig. Landwirtschaft trifft man auf den Pampas im Norden an.Wohl wird in Comodoro Rivadavia Erdöl und Erdgas gefördert, aber davon merkte man im patagonischen Hinterland nicht die Spur.

Walisische Einwanderer landeten 1865 in Puerto Madryn und führten 1877 Schafe ein, angeblich von den Falklandinseln. Der Süden Patagoniens war damals noch gar nicht zur Besiedlung freigegeben. 85 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche sind Weideland. Für ein Schaf müssen etwa drei Hektaren berechnet werden, aber Land ist ausreichend vorhanden. Die Zahl der Schafe in Argentinien dürfte sich auf 14 Millionen belaufen, aber solche Zahlen besagen letztlich wenig. Wichtiger wäre die Frage, wie die Tiere gehalten werden, und da gibt es grosse Bedenken. Die Berufs-Gauchos, die im Akkord arbeiten, gehören nicht zu den zartesten Menschen. Hunderte Schafe werden in Gobernador Costa geschlachtet und das Fleisch in der Umgebung bis nach Esquel verkauft. Ich suchte den spanischen Ausdruck für „schlachten“, aber der Patron kam mir zuvor.

Sacrificado“ (geopfert)“, fiel er ein.

Betrieben wird die Schafzucht vor allem wegen der Wolle (nicht wegen des Fleischs). Bevorzugt wird daher das Merinoschaf, das eine besonders feine Wolle abgibt, die von der Textilindustrie hoch geschätzt wird. Oder es war so, bis die Preise auf dem Weltmarkt einbrachen. Die ganze Region war betroffen und das Leben der Menschen existenziell in Mitleidenschaft gezogen. Die globale Wirtschaft, die damals noch kein Thema wie heute war, konnte einzelne Regionen auf der Welt zum Prosperieren bringen und andere in kurzer Zeit ins Elends stürzen. Die Ursachen verstanden die Menschen kaum. Es fiel ihnen schwer, den Funktionsmechanismus von Monokulturen und dem Weltmarkt zu verstehen. Und im Zeitalter der Kunstfaser nimmt die Schurwolle eine andere Bedeutung ein.

Eine Lösung ist kaum absehbar. Der Ausweg, die Zahl der Tiere zu erhöhen, würde nur noch grössere Folgeproblemen nach sich ziehen: Bodenerosion, Desertifikation, Preiszerfall für Wolle, schliesslich Abwanderung. Schlechte Aussichten.

Wir verabschiedeten uns von dem Patron in Gobernador Costa mit einem herzhaften Händedruck. Noch nach Tagen rochen meine Hände nach frischem Blut.

Es gibt hier nichts zu tun“

Über unseren Aufenthalt in Rio Mayo gab es nicht viel zu sagen. Rio Mayo ist ein Ort (wie viele), um auf der Durchfahrt die Nacht zu verbringen und am folgenden Tag die Reise fortzusetzen. In Tecka waren wir am zweiten Tag schon einmal vorbei gekommen. Zum Nachtessen servierte die Wirtin nichts Unbekanntes: Huhn, Frites. Um uns eine Freude zu machen, stellte sie den Fernseher so laut ein, dass wir sie baten, ihn freundlicherweise auszuschalten. Die Rechnung beglichen wir sofort, und am nächsten Morgen machten wir uns in aller Frühe bei bissiger Kälte auf den Weg. Frühstück gab es an der ersten geöffneten Tankstelle und bestand aus Nescafé und einer Packung Biskuits.
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Die Ortschaft Gastre in der Weite Patagoniens.
Wo ist hier das Leben?


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"Müssige Tage" in Gastre. Kein Leben in der Bar.
"Hier gibt es nichts zu tun."

Immer noch suchten war nach einem Ort, der einen Eindruck von ebenso narrativer wie exemplarischer Qualität von Patagonien geben könnte. Doch umsonst. Schon dachten wir an einen Plan B, als wir nach einer mehr als 2000 Kilometer langen Odyssee an einem Ort anhielten, um Pause zu machen und etwas zu trinken .

Wenn man in der schmucklos eingerichteten Bar aus dem Fenster schaute, sah man auf die endlose patagonische Ebene hinaus. Wäre auf der Strasse vor dem Haus ein Auto vorbeigefahren, hätte sich vielleicht eine riesige Staubwolke gebildet, aber es fuhren kaum Autos vorbei. Galdamez Ciraco, der nachmittags in der Bar bediente, sofern zufällig Gäste vorbeikamen, die nur Ortsansässige sein konnten, schaute nachdenklich aus dem Fenster.
 
Es gibt hier nichts zu tun“, fasste er seine Situation zusammen, wenn er nicht an dem Röhrchen saugte, mit dem Maté (Tee) getrunken wird.

Träger Nachmittag in der Bar

Er träumte davon, in Trelew Arbeit zu suchen, in der fernen, grossen Stadt, wo „etwas los ist“. Länger hier bleiben – nur das nicht! Später trat ein Gast mit einer Reisetasche ein, der hier Halt machte, offenbar viel Zeit hatte und Galdamez zu einer Partie Billard aufforderte. Jetzt beobachteten wir elektrisiert, was geschah. Bald erschien ein weiterer Gast in einem abgewetzten Pullover und ausgetretenen Turnschuhen. Er war offenbar eine bekannte Erscheinung und liess sich von einem Regal, auf dem Rhumflaschen, Bierdosen, ein Radioapparat und einige Musikkassetten, ein Messer, eine Taschenlampe und eine Tüte Yerba Maté aufbewahrt wurden, eine Gitarre geben. Mit knarrender Stimme fing er an zu singen – und für eine halbe Stunde herrschte in dem Lokal fast so etwas wie Hochstimmung. Nichts, das auch nur im Entfernten mit Chatwins Narrativen zu vergleichen gewesen wäre, jedoch der Realität und Authentizität nahe kam.

Karl-Heinz und ich schauten uns an und sagten nichts. Wir hatten beide den gleichen Gedanken. DAS WAR ES. Wir waren angekommen. Wir hatten zu guter Letzt gefunden, was wir suchten. Der Ort hiess Gastre.
 

Zweiter Teil

Alltag in einem fernen Land

80 Kilometer bis zur nächsten Tankstelle – Immer das gleiche und nie das selbe Essen – Unsere Informanten José Hoover Ochoa und Maria Eugenia Salomon – „Weil es hier ruhig und friedlich ist“ – Bildung als Befreiung des Individuums – Der Begriff soledad – Einladung zum Nachtessen auf einer Estancia – Patagonischer Realismus

Wir wussten: Das war der Ort, den wir gesucht hatten. Wir quartierten uns im bescheidenen Hotel Cristina ein. Es gab einen Speisesaal (ein nobles Wort) mit Tischen und Metallstühlen mit plastiküberzogenen Sitzen sowie einen Fussball-Spielkasten. Das war das gesamte Mobiliar. Die einfachen Zimmer lagen hinter dem Haus, die Wascheinrichtung befand sich im Freien in einem Anbau nebenan. Wer frieren wollte, musste um die Mittagszeit duschen, wer erfrieren wollte, konnte es zu jeder anderen Tageszeit tun. Das Gästebuch, das die Wirtin Amanda Lopez mit umständlicher Akribie führte, zeigte, dass nur alle paar Tage Menschen hier Halt machten und auch nur, wenn sie einen zwingenden Grund hatte.

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Menschen in der Provinz Chubut. Von einem patagonischen
Mythos ist hier keine Spur zu finden.



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Das einfache, harte Leben der Landarbeiter in Patagonien.
Vom Leben viel zu erwarten gibt es hier nicht.

Gastre zählte 435 Einwohner und ist der Hauptort des Distrikts gleichen Namens, in dem es damals kein einziges Stück asphaltierte Strasse gab. Nicht einmal Benzin war hier aufzutreiben. Um den Tank zu füllen, gab es nur eine Möglichkeit: nach Gan-Gan fahren, den nächstgelegenen Ort mit einer Tankstelle, 80 Kilometer entfernt, 160 hin und zurück. Einmal in der Woche verkehrte ein Bus, der jeden Dienstag aus Trelew ankam und am selben Tag wieder dorthin zurückfuhr. Der Dienstag war immer ein bewegter Tag, wenn Briefe, Zeitungen, Warensendungen aller Art eintrafen und für Gesprächsstoff gesorgt war. Aber spätestens abends war die Aufregung vorüber und der Ort sank wieder in seine reguläre Eintönigkeit zurück.


Umschlagort für den Transport von Wolle

Gastre besteht aus vier, fünf Längs- und ebenso vielen Querstrassen sowie einer heruntergekommenen Plaza Central mit einer beschädigten Büste des argentinischen Befreiers José de San Martin in der Mitte – ein Ort wie aus der Retorte. Gegründet worden war er wahrscheinlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Umschlagort für den Wolltransport. Mehr zu sagen gibt es kaum. Geblieben ist einzig ein Hauch von Frontierstimmung und High Noon. Die Bedeutung des Orts liegt in der administrativen Funktion für das Hinterland, das aus wie Satelliten angeordneten Estancias besteht. Es gibt eine Schule, ein Spital, drei Läden, ein Hotel, zwei Bars, eine Radiotelefonstation (wir sind im Jahr 1993), die auch den Postdienst versieht, einen Dieselgenerator, der vierundzwanzig Stunden in Betrieb ist, sowie eine Comisaria (Polizeistation), vor der die argentinische Flagge aufgezogen ist.

Zu essen gab es am ersten Abend Schaffleisch und Kartoffeln. Wir hatten von Hühner- zu Schaffleisch einen Zonenwechsel absolviert. Es verwunderte uns kein bisschen, dass es auch am nächsten Tag zum Mittagessen und an allen folgenden Tagen Schaffleisch und Kartoffeln gab, mittags und abends, immer das gleiche, nie dasselbe. Das Essen bereitete Amanda Lopez in einer genialen überraschenden Variationsvielfalt zu. Dazu gereicht wurde Bier, Wein, Kaffee. Eine Flasche Wein, natürlich argentinischer, war bald aufgetrieben.

Wir erlebten als Reporter-Team eindrucksvolle Tage in Gastre. Jedes Mal, wenn Karl-Heinz und ich uns seither treffen, kommen wir auf das Thema Gastre zu sprechen und fragen uns, warum die sechs Tage, die wir dort verbrachten, einen so tiefen Eindruck hinterlassen haben wie bei Darwin und Hudson. Weil uns alles ebenso einfach wie direkt, echt, unprätenziös vorkam? Ja, weil das, was wir erlebten, auch genau das war, was in diesem Augenblick tatsächlich geschah, verbürgt, authentisch, nichts anderes.

Auskunft aus erster Hand

Auf einem ersten Rundgang durch Gastre kamen wir an einem Ort vorbei, den wir für den Schulhof und Sportplatz hielten. Drei, vier erwachsene Personen assistierten den Jugendlichen beim Fussball Spielen. Als wir eine Weile zugeschaut hatten und nicht vom Fleck wichen, kamen zwei Erwachsene zu uns herüber.

Buenos dias“, sagte die männliche Person, „buenos dias“, grüsste die weibliche Begleitung.

Wir grüssten unserseits.

Auf der Durchreise?“, fragten sie.

So ist es.“

Sind Sie Amerikaner?“

Nein, Europäer. Er ist Deutscher, ich bin Schweizer.“

Die beiden lachten und waren befriedigt. Sie gaben zu, die Amerikaner nicht zu mögen. Wir kamen schnell ins Gespräch.

Der Mann stellte sich als José Hoover Ochoa vor , die Frau als Maria Eugenia Salomon. Sie war Ochoas Frau. Beide unterrichteten an der Schule. Täglich begegneten wir uns und erfuhren von ihnen alles Bedeutsame über sie selbst, über die Menschen in Patagonien und über die Art, wie sie an diesem Ort leben. Sie wurden unsere besten Informanten und wir beide bald überall in Gastre bekannt. Die Schweiz kannten sie wegen der Banken. Und Deutschland?

Das sind die Gegner unserer Fussball-Nationalmannschaft“, sagten sie.

José und Maria Eugenia kamen aus Santa Fé, wo sie ein Haus besassen. Während der Schulzeit von März bis Dezember, also des Winters in der südlichen Hemisphäre, lebten sie in Gastre, die übrige Zeit im Norden. “Norden“ und „Süden“ sind die Begriffe für zwei entgegengesetzte Lebensweisen. José hatte Philosophie in Mendoza studiert, ausserdem schrieb er Poesie und Prosa, aber wenn es ans Publizieren geht, sind die Schwierigkeiten überall auf der Welt gleich. Im Norden sind die Menschen besser gestellt, aber es sind „roboter humanos“ (menschliche Roboter), meinte Maria Eugenia. Den Süden bezeichneten sie und José als „tercer mundo“, als zurückgeblieben, als Dritte Welt.

Warum seid Ihr hierher gezogen, wenn die Gegend so rückständig ist?“, fragten wir.

Hierher kommt niemand. Alle wollen weg“, behaupteten sie.

Aber ihr seid aus dem Norden hierher gezogen.“

Mucho tranquillo“, versuchte Maria Eugenia ihren Entschluss zu erklären. Wegen der Ruhe. Wegen der Einfachheit des Lebens. In den Städten im Norden herrschen Hektik, Lärm, Kriminalität, aber hier war es „tranquillo“, hier war das Leben friedlich, angenehm. José zeigt seinen Arm. Er trug keine Uhr. Brauchte er nicht. Und man konnte das Haus verlassen, ohne es abzuschliessen.

Im Norden haben die Menschen keine Zeit zum Nachdenken.“ Sie hatten.

Was kann man mit Philosophie in Chubut machen?“, wollten wir von José wissen.

Vor Hunger sterben“, antwortete er. Lachte. El que piensa, pierde (wer denkt, verliert). Ausserhalb des Sozialen gibt es keine Philosophie, das wollte er war uns begreiflich machen.

Keine Bäckerei am Ort

Die Lebensführung war aufwändig. Zum Beispiel gab es keine Bäckerei. Ihr Brot buk Maria Eugenia selbst. Alle zwei Monate fuhren sie und José nach Trelew (über 400 Kilometer) zum Einkaufen und verwahrten die Vorräte im Tiefkühler. Als Lehrpersonal waren sie in einer bevorzugten sozialen Lage. Im Ort selbst waren drei Läden anzutreffen. Der erste führte Handwerksgeräte, Bohrer, Sägen, Seile, Ventile; der zweite verfügte über ein Sortiment an Turnschuhen, Batterien, eine kleine Auswahl an Videofilmen, Zigaretten, Zahnpasta, Steigbügel, Lassos und dergleichen; der dritte Laden war für Nahrungsmittel zuständig: Kartoffeln, Zwiebeln, Speiseöl, Fette, eine Sorte Käse, eine Sorte Wurst, auch Yoghurt (aber wenig), dafür ein enormes Angebot an Süssigkeiten jeder Art. Ebenso Putzmittel, aber kaum oder keinerlei Gemüse oder Obst. Das Fleisch kam aus der eigenen, wöchentlichen Schlachtung.

Leider ist die Nachfrage nicht gross“, sagte Ildo Gancian, der Besitzer des Lebensmittelladens, mit dem Ausdruck des Bedauerns.

Warum? Weil die Menschen Frischprodukte nicht kennen oder sich nicht leisten können?“

Ich weiss es nicht“, brachte Ildo Gancian vor und zuckt die Achseln. Er konnte nichts dazu beitragen. „Es ist einfach so.“

Und weil er es nicht wusste und es auch sonst niemand sagen konnte, blieb der unvermeidliche Speisezettel aus Kartoffeln, Schaffleisch und in Tierfett (nicht Öl) gebackenem Weissbrot, „torta frita“ genannt, weiterhin so zusammengesetzt, wie er es immer war.

Der Wunsch, Erziehungs- und Aufbauarbeit zu leisten

In den Gesprächen mit José und Maria Eugenia war uns ein ironisches, manchmal distanziertes Verhältnis aufgefallen, dass sie zu Patagonien unterhielten. Aber es gab auch eine deutlich entgegengesetzte Seite, die uns beeindruckte, eine Verbundenheit mit den Menschen, unter denen sie lebten, fast eine Zuneigung. Sie waren entsetzt, wenn sie sahen, wie die Menschen in Patagonien, im „Süden“, der Vernachlässigung, gar der Verachtung durch die feine Welt im „Norden“ ausgesetzt waren. Einmal sagte Maria Eugenia etwas, das uns aufhorchen liess.

Erziehung ist ein Beitrag zur Befreiung des Individuums.“

Das war auch ein Grund gewesen, in den Süden zu kommen, Erziehungsarbeit zu leisten, einen Bildungsauftrag zu erfüllen, nicht nur Gefallen am ruhigen Leben, das sie hier antrafen, zu finden. Auch den 33jährige Ruben Dario, den intendente (Bürgermeister) von Gastre, der nebenbei ebenfalls Schulunterricht erteilt, hatte die Aufgabe gelockt, im fernen Patagonien „Aufbauarbeit“, wie er sich explizit äusserte, zu leisten.

Gleiches traf auch auf Dr. Oscar Nestor Giovanelli zu, der das kleine Spital in Gastre leitete und ein weiterer wichtiger Informant war. Seine Tätigkeit reichte von der Geburtshilfe über die Behandlung der Hidatidosis, einer Infektionskrankheit, die von Schafen auf den Menschen übertragen wird, bis zur Verteilung von Milchpulver im Auftrag der Regierung im ganzen Distriktsbereich. Über 200'000 Kilometer legte er jedes Jahr im Pickup zurück. Ein grosses Problem sah er in der einseitigen Ernährung der Menschen, aber wenigstens, so gab er zu bedenken, war der Kalorienbedarf gedeckt, besonders wenn in der Winterzeit in Patagonien die Temperaturen bis unter 20° sinken kann.

Ich liebe meine Tätigkeit hier. Sie ist vielseitig und eine Herausforderung, und sie ist von gesundheitspolitischer Bedeutung für die Bevölkerung hier“, sagt er.

Wenn er dennoch manchmal daran dachte, in den Norden zurückzukehren, dann allein deshalb, weil er als ausgebildeter Kardiologe fürchtete, den Anschluss an die medizinische Entwicklung zu verpassen. Andere wiederum dachten aus völlig anderen Gründen daran, wegzuziehen.

Wir leben gern hier aber...

Da die Schafhaltung immer weniger rentierte, verschlechterten sich im gleichen Mass die Lebensaussichten der Menschen. Alcides Aveche hatte die Nachteile dieser Entwicklung erfahren müssen. Lange Zeit war er auf einer Estancia angestellt. Als nicht mehr genügend Arbeit vorhanden war, wurde er entlassen. Er liess sich in Gastre nieder und eröffnete eine Bar, die zweite am Ort, aber die Gäste wuchsen nicht in den Himmel. Abends konnte er daher auf dem Billardtisch den Töchtern Cecilia und Beatrice helfen, die Schulaufgaben zu lösen.

Wir leben gern hier“, fing er an zu erzählen. „Wir haben immer hier gelebt, und wir wollen nicht wegziehen, wenn es nicht sein muss. Wir lieben das Land und das Leben hier, die Kälte, die Einsamkeit.“

Das war eine Einstellung, die wir oft zu hören bekamen.

Wie wird es weitergehen?“, fragten wir.

Nada“, antwortete er.

Kein Widerstand? Aufstand?“

Nada. Die Menschen sind resigniert.“

Viele, ja, aber alle nicht. Wenn es darauf ankam, wussten die Menschen mit den Händen zuzupacken. Eine schöne, wenn auch etwas abgehobene Antwort hatte uns Maria Eugenia gegeben. In einer feinen poetischen Umschreibung und in einer auf dem ganzen lateinamerikanischen Kontinent verständlichen Sprache und Begrifflichkeit fasste sie die Situation zusammen:

Noch mehr soledad wird sich ausbreiten“, sagte sie.

Der Ausdruck meint nicht erst seit dem Roman von Nobelpreisträger Gabriel Garcia Marquez mehr als Einsamkeit im wörtlichen Verständnis. Er drückt soviel wie Verlassenheit, Trägheit, Lethargie, Unentschlossenheit aus; drückende Schwere der Tage; Ausweglosigkeit aus dem Labyrinth der Zeit. Für den Ausdruck ist Patagonien ein schönes Anschauungsbeispiel. So grandios die Landschaft mit ihrer Weite und Kargheit ist und sie den Menschen auf sich stellt, so schlicht, so widerstandsfähig ist das Leben der Menschen, die hier von Tag zu ihr Tag Dasein verbringen.

Chatwins falsches Bild von Patagonien

Längst vorbei sind die Tage, als Bruce Chatwin zu seinem phantastischen Trip auf der Suche nach dem patagonischen Mythos aufbrach. Wir hatten ein anderes Patagonien angetroffen. Auch das Bild, das der Tourismus vermittelt, ist zwar nicht falsch, aber bestimmt nicht repräsentativ für Patagonien.

Im Verlauf unserer zahlreichen Gespräche waren wir wiederholt auf ein Thema gestossen, das uns hellhörig machte. Die Rede war von Plänen für ein internationales Atomendlager in der Sierra del Medio, 70 Kilometer westlich von Gastre. Viele sprachen davon, niemand wusste Genaueres. Ruben Dario war kein Gegner des Projekts.

Wir müssen jede Gelegenheit ergreifen, um Gastre vorwärts zu bringen“, meinte er optimistisch.

Ein Vertreter von Greenpeace in Trelew war anderer Meinung.

Die Menschen in Gastre glauben an ein zweites Las Vegas.“

Wir hatten von einem Informanten in Puerto Madryn gehört, der uns Auskunft geben wollte, und verabredeten uns mit ihm für den folgenden Tag, wenn wir in Puerto Madryn sein würden. Unsere späteren Erkundungen ergaben nichts Näheres und eine Realisierung war nicht in Sicht. Aber sogar Wikipedia hat die Angelegenheit aufgenommen.

Anschauungsunterricht über Schafzucht

Unsere Zeit in Gastre war abgelaufen und die Zeit gekommen, an die Rückreise zu denken. Bewegt nahmen wir von unseren Freunden und den vielen Menschen, denen wir begegnet waren, Abschied.

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Auf der Estancia der Familie Kruse. Mit Schafzucht ist es möglich, 
ein einfaches, aber selbstbestimmtes Leben zu führen.

Eine lange Fahrt auf Schotterstrassen bis Puerto Madryn an der Küste stand uns bevor. Gegen Abend zweigten wir von der Fernstrasse nach einem Ort, der Chacay Oeste hiess, ab, weil wir dachten, eine Unterkunft zu finden, bevor wir noch hundert Kilometer weiterfuhren und dann unter Umständen auch nichts finden würden. Auf einer Estancia, wo wir vorbeikamen, waren Menschen mit der Markierung von Schafen beschäftigt. Das war eine Gelegenheit für letzte Aufnahmen. Karl-Heinz sprang aus dem Wagen und begann zu fotografieren, während ich den Leuten unsere Absicht erklärte.

Machen Sie nur“, sagte der Mann, der hier das Sagen zu haben schien und seine Arbeit unbeeindruckt fortsetzte.

Als er fertig war, lud er uns zum Maté-Trinken zu sich nach Hause ein.

Wo wollen Sie heute noch hin?“ fragte er.

Nach Puerto Madryn.“

Das ist noch ein weites Stück dorthin. Wenn Sie wollen, können Sie hier übernachten.“

Es war die letzte Begegnung mit der grossen Offenheit und Umgänglichkeit der Menschen in Patagonien.Wir sagten erfreut zu.

Der Mann hiess Guillermo Kruse, seine Frau Transita Huisca. Sie hatten zwei Söhne. Guillermo Kruse war noch ein kleines Kind, als seine Eltern aus Alemania nach Argentinien auswanderten. Auf seine deutsche Herkunft war er stolz, auch wenn er mit Deutschland keine genaueren Vorstellungen verbinden konnte.

Wie die meisten Menschen in Patagonien lebten die Kruses von der Tierhaltung. 3000 Schafe besassen sie (2000 sind für ein mittleres Einkommen ausreichend). Mit seinen 65 Jahren packte Guillermo bei der Arbeit kräftig zu, und jeder Handgriff war wie eine Manifestation seiner Persönlichkeit. Kein Bereich seines Besitzes, vom zementierten Zugang zum Wohngebäude bis zum selbst hergestellten Lederzeug, der nicht seine Handschrift getragen hätte. Die Söhne halfen bei der Arbeit mit, während Frau Transita alle Arbeiten im Haus vom Kleider Nähen bis zur Zubereitung von Marmelade aus wilden Quitten besorgte.

Realismus des Selbstverständnisses

Der Windgenerator hinter dem Haus und der reich ausgestattete Vorrats- und Lagerraum mit Nahrungsmitteln und Werkzeugen liess erkennen, dass Guillermo Kruse vorausschauend dachte.

Wir haben alles, was wir brauchen. Solange wir so leben können wie jetzt, verlangen wir nicht mehr“, sagte er.

So etwas hatten wir oft gehört. Aus seinen Worten sprach ein seiner selbst gewisser dueño (Grundherr). Im November und Dezember zu früher Morgenstunde, nach dem ersten Maté, reiten er und seine Söhne aus, um die Schafe einzutreiben. Wenn die Tiere markiert und kupiert werden, spritzt das Blut, blöken die Schafe und lacht Kruse herzhaft. Die Arbeit nimmt gewöhnlich mehrere Tag in Anspruch, im darauffolgenden Januar werden die Tiere dann geschoren. Doch niemand konnte übersehen, dass sich in der Lagerhalle neben Kruses Wohngebäude die Ballen mit Rohwolle stapelten. Nicht weil der Abtransport sich verzögert hätte, sondern die Nachfrage ausblieb, wie wir oft zu hören bekommen hatten. Vor zwanzig Jahren war es noch möglich, ein halbwegs anständiges Auskommen zu finden, heute nur noch unter etlichen Entbehrungen.

Zum Nachtessen bei den Kruses gab es Schaffleisch, Kartoffeln – aber das muss jetzt nicht noch einmal aufgewärmt werden. Wir schliefen behaglich und frühstückten am Morgen mit den Kruses. Als sie fertig waren, waren wir es auch. Sie bestiegen ihre Pferde; wir beluden unser Fahrzeug. Sie winkten zurück; wir ihnen nach. Bald waren sie am Horizont verschwunden. Wir fuhren mit unseren Eindrücken in die entgegengesetzte Richtung weiter.

Wo der Ausdruck „soledad“ gebraucht wird, sprachen andere wie Alcides Aveche in Gastre von „Agonie“. Welcher Terminus verwendet wird, hängt vom jeweiligen Standpunkt ab. Aber wer Agonie sagt, auch „schleichende“, übersieht den starken, widerstandsfähigen, robusten Charakterzug der Menschen in Patagonien, der sie in die Lage versetzt, hier nicht einfach durchzuhalten, was zu kommod wäre, sondern vielmehr unter rigorosen Bedingungen ein respektables Dasein zu gestalten. Hier, wo die Lebensumstände eine Herausforderung darstellen, aber auch ein sinnvolles Dasein gewährleisten; wo das Handfeste, Wirklichkeitsnahe, an den Fakten des Lebens Ausgerichtete den Ausschlag für einen Realismus des Selbstverständnisses gibt; wo die Erde nichts hergibt und der Wind über die kahlen Ebenen heult, aber die Menschen um nichts in der Welt mit einem anderen Leben tauschen wollen.

Wir sind am Ende unserer Geschichte angekommen. Dass sie etwas in die Jahre gekommen ist – merkt man das? Unser Ko-Autor Karl-Heinz Raach war unlängst erneut in der Gegend unterwegs und meinte, viel verändert habe sich nicht. Wo sich aber nichts ändert oder nicht viel, bleibt alles beim Alten, und das Ende einer Geschichte bildet den Anfang einer neuen, anderen, und alles nimmt seinen Verlauf.

 
5. Dezember 2021