Der französische Schriftsteller Hervé Le Tellier hat in seinem Buch „Die Anomalie“ den Fall beschrieben... Aber es wäre verfehlt, die Pointe voreilig preiszugeben. Nur soviel: Es ist ein irrwitziges Buch, das eine Hypothese aufstellt und Unmögliches behauptet, aber Gelegenheit bietet, die Spielarten einer absurden Situation nacheinander durchzuexerzieren. Sensationen und Perplexität.
Von Aurel Schmidt
Auf der Fotografie auf der hinteren Umschlagsklappe des Buchs “Die Anomalie“ sieht sein Autor, der französische Schriftsteller Hervé Le Tellier, etwas mitgenommen aus. Diesen Eindruck macht er auf mich. Nicht unbegründet, wenn berücksichtigt wird, dass es noch nicht lange her ist seit Beendigung des Romans. Die Arbeit muss eine Herkulesaufgabe gewesen sein. Vielleicht ist auch die Porträtaufnahme nicht aktuell. Bei Youtube macht Le Tellier einen frischeren Eindruck, als wollte er sagen: Vielleicht ist mir mit dem Buch ein Streich gelungen.
Und was für einer! „Die Anomalie“ ist das verrückteste Buch seit Langem. Übrigens ist die hier beschriebene Anomalie nichts weiter als the new normal, die neue Normalität, denn was heute nicht anormal ist, kann keinen Anspruch auf Glaubwürdigkeit erheben. Nur was vollkommen neben den Schuhen daherkommt, kann den Realitätscheck bestehen, man mag es drehen und wenden wie man will.
Verrückt muss hier auch hinterhältig heissen. Der Autor spielt eine grausame Partie mit seiner Leserschaft. Die Handlung ist ganz schön durchgeknallt. Umso schwieriger ist es, sie zu erklären, und doch muss ein kurzer Versuch zu ihrem besseren Verständnis unternommen werden, auf das Risiko hin, die Pointe preiszugeben.
Die die Handlung geht so. Im März startet der Air France-Flug AF 006 von Paris nach New York und trifft nach heftigen Turbulenzen am Zielort ein. Drei Monate später, im Juni, erreicht die gleiche Maschine mit den gleichen Passagieren, gleicher Identität und gleicher DNA erneut in New York. Zur besseren Unterscheidung werden die Mitfliegenden mit „March“ und „June“ bezeichnet. Die Wiederholung des gleichen Ereignisses ist kaum zu erklären. Eigentlich gibt es gar keine Erklärung, sondern wir haben es mit einer willkürlichen Auflage zu tun, die Le Tellier Gelegenheit gab zu einem „Gedankenexperiment“, wie er selbst sagt. Was kann ein Autor mit einer solchen Sachlage anfangen? Das, was manchmal Handlung genannt wird, ist hier nur ein Gerüst, ein Gestell, eine Anordnung zum Zweck, einen Roman zu schreiben, der gar keiner ist, aber doch 2020 den renommierten Prix Goncourt erhalten hat.
Fliessende Grenze zwischen Realität und Fiktion
Hier ist eine kurze Erklärung über den Autor einzuschieben. Le Tellier gehört der Autorengruppe Oulipo („Ouvrage de littérature potentielle“), die sich unlösbare Aufgaben ausdenkt, um sie literarisch zu lösen. So hat zum Beispiel ein anderes Mitglied, Georges Perec, einen Roman geschrieben, in dem der Buchstabe „e“ nicht vorkommt – eine Aufgabe um durchzudrehen.
Le Tellier ist anders vorgegangen. Die doppelte Ankunft der identischen Passagiere erlaubte ihm, die Grenze zwischen Realität und Fiktion aufzuheben und mit den Themen Simulation und Duplizierung zu spielen. Das scheint heute ein aktuelles Thema zu sein. Wir kopieren, klonen, verdoppeln, vervielfachen die Welt, in der wir leben. Es gibt Menschen, die sich im Netz mehrere Identitäten zulegen. Andere bezeichnen sich nicht als Individuum, sondern als Dividuum, wenn nicht als Multividuum.
Für den französischen Philosophen Jean Baudrillard war die Simulation ein zentrales Thema: ein erheblicher Versuch, aus der soziologischen Analyse der alltäglichen, realen Welt abzuleiten, was er Hyperrealität nannte: eine Scheinwirklichkeit, die in der Wiederholung des Gleichen besteht und jeden Sinn verloren hat. Wir haben es nicht mehr mit realer Präsenz, realen Objekten, auch nicht realen Sinn- und Wertvorstellungen zu tun, sondern mit Zeichen und Ersatzmitteln, um die alte, hausbackene Wirklichkeit zu substituieren.
An einer Stelle nimmt Le Tellier, wie er in einer Fernsehsendung zugegeben hat, indirekt auf den Physiker und Philosophen Nick Bostrom Bezug, der in Oxford Physik und Philosophie lehrt und sich gefragt hat, ob die Durchsetzung einer Superintelligenz eines Tages eine datengenerierte Simulation unserer Welt hervorbringen könnte.
Unsere Welt – nur eine Simulation?
Diesen Gedanken greift Le Tellier auf und spielt mit der Frage, ob alles um uns, wir selbst miteingeschlossen, nichts weiter als ein Programm ist und also das, was wir Realität nennen, eine Konstruktion sein könnte. Das liegt an der fliessend gewordenen Grenze zwischen realer und virtueller Welt, zwischen moderner Physik und...und... Aberwitz. Doch dann tritt im Roman eine Figur auf, die mit Vehemenz die natürliche Welt verteidigt, und man glaubt, beruhigt sein zu können. Aber nein, Le Tellier selbst sagt mit diabolischem Impetus, dass manchmal die schlimmste Lösung die beste sei. Weil er das Spiel mit Sensationen und Perplexität weiterverfolgen will.
Im ersten Teil des Buchs werden verschiedene Lebensläufe, Karrieren,Viten einzelner Romangestalten, die alle Passagiere des Flugs AF 006 waren, narrativ aufgezeichnet. Wenn der zweite Flug AF 006 in New York landen will, wird die Maschine von den US-Geheimdiensten zur Landung auf der McGuire Air Force Base gezwungen und die Passagiere June sofort isoliert. Die Sicherheitsbehörden gehen begreiflicherweise umgehend vom Verdacht einer Entführung oder eines Angriffs auf die USA aus.
Später sollen die Passagiere June auf die Begegnung mit den Passagieren March vorbereitet werden, also eigentlich mit sich selbst. Psychologen werden zur Unterstützung aufgeboten, Wissenschafter haben die Aufgabe, den Vorfall zu erklären, wofür weder die Theorien über Hyperraum, String oder Lorentz-Transformation ausreichen. Am schlimmsten wird es, wenn auch Vertreter der verschiedenen Religionen hinzugezogen und zu ihrer Meinung befragt werden. Dann bricht ein heilloses Durcheinander aus und erreicht der Sarkasmus ein Ausmass wie selten.
Le Telliers Arbeit am Text
In dritten Teil unternimmt Le Tellier die Aufgabe, sich auszumalen, wie das Leben aussehen könnte oder müsste, wenn jeder Mensch in doppelter Weise vorkommt. Unter den Passagieren ist zum Beispiel eine alleinstehende Frau mit einem Sohn, der mit einem Mal zwei Mütter hat – zwei gleiche, aber verschiedene, muss man ergänzen. Man stelle sich vor! Die Protagonisten werden also mit diffizilen menschlichen Problemen konfrontiert. Le Tellier exerziert alle möglichen Konstellationen nacheinander durch. Am aller schwierigsten wird die Sache, wenn einer der Passagiere, der depressive Schriftsteller Victor Miesel March, Selbstmord begeht, und Victor Miesel June sich bei Ankunft in New York allein vorfindet. Die Ordnung der Erzählstruktur wird massiv gestört. Die Einfälle überschlagen sich, es ist eine Spielsituation mit Einfällen und Variablen und ebenso eine des Autors, der seine Leserschaft auf die Probe stellt.
Am bemerkenswertesten aber ist vielleicht Le Telliers Arbeit am Text. Kürzere Erzählstrecken folgen aufeinander wie Sequenzen im Film, die durch Schnitte getrennt werden und eine turbulente Bildfolge ergeben. Wiederholt meint man, in diverse soziale Milieus versetzt zu sein, die man von irgendwoher zu kennen glaubt, zum Beispiel aus Büchern, Reportagen oder Filmen. Le Tellier wollte verschiedene Genres, Milieus und Lebenssituationen der Reihe nach literarisch ausprobieren: Kriminalroman, psychologische Studie, erotische Romanze, Verhandlungen in einer Anwaltskanzlei, Diskussionen in wissenschaftlichen Kreisen.
Vieles kommt einem fremd, vieles bekannt vor
Es geht ungefähr zu wie im Film „Once upon a time in...Hollywood“ von Quentin Tarantino, in dem Szenen vorkommen, die man aus anderen Filmen zu kennen meint und die neu zusammengeschnitten worden sind. “Man macht sich keine Vorstellung davon, was die Auftragskiller den Szenaristen in Hollywood verdanken“, bemerkt Le Tellier zum Beispiel und verrät damit seine Nähe zum Film, besonders zum film noir. Schon der erste Satz des Buchs: „Jemand umzulegen, das ist gar nichts“ kommt wie aus der Pistole geschossen. Auch der Sohn von Le Telliers Berufskillers Blake trägt den Vornamen Quentin. Wenn das nichts zu bedeuten hat.
Alles klar? Hoffentlich nicht! Ein rätselhafter Rest als Unruheherd muss bleiben. Anderenfalls wende man sich direkt an den Autor selbst. Auf Seite 81 des Romans schreibt die Figur des Victor Miesel ein Buch mit dem Titel „Die Anomalie“. Dieser Roman sei „ein sonderbares Buch, ein pochender Rhythmus, dem man sich nicht entziehen kann, ein dunkler Text, ganz ohne Distanz, in dem selbst die Persiflage schmerzhaft wirkt“, und so weiter, heisst es bei Le Tellier. Bei diesem Wortlaut könnte es sich um einem Waschzettel (Kurztext von Verlagen für Redaktionen) für das Buch von Miesel handeln, der ohne weiteres auf Le Telliers eigenen Roman bezogen werden kann. Der Autor wollte sich wohl in der Rolle seiner Romanfigur reinkarnieren – und sich am Verdoppelungsspiel, das er treibt, mitbeteiligen.
Das ist einer von Le Telliers Streichen und gehört zu seiner Verwirrungsstrategie. Sie trägt dazu bei, dass der Roman dem ärgerlichen Fehler vieler Autoren und Autorinnen, in die Falle der schmachtenden Befindlichkeitsliteratur zu treten, elegant aus dem Weg geht. Das ist, neben dem Drive und Wahnwitz der sich überstürzenden, delirierenden Einfälle, noch ein weiterer Vorzug der Lektüre des Buchs.
Zur Bibliografie:
Das Buch ist in der deutschen Übersetzung von Jürgen und Romy Ritte bei Rowohlt erschienen und kostet etwa Fr. 34.--
6. Oktober 2021