Der Corona-Lockdown hat die Welt durcheinander gebracht und eine neue Zukunft verheissen. Nach kurzer Zeit wollen jetzt immer mehr Menschen "zurück zur Normalität" und meinen damit die systemrelevante Welt von gestern, die nie war, was sie versprochen hat. Was steht auf dem Spiel?

Von Aurel Schmidt

Es ist erstaunlich, wie in den gegenwärtigen Viruszeiten bestimmte Diskussionsstoffe von der Bild- und Hörfläche verschwunden sind. Wer redet noch von den Fridays for Future? vom Neoliberalismus? von den exzessiven Individualismusschüben? von Freihandelsabkommen und Wachstum? Die Agenda ist bereinigt und leergefegt.

Was sich demgegenüber feststellen lässt, ist die Tatsache einer Harmonisierung des Verhältnisses von Staat und Volk. Mit nur einem leichten Knurren haben die Menschen die Anweisungen der Behörden befolgt; sogar die Annullierung von Fasnacht und Fussball wurde akzeptiert, wo doch sonst der Staat das Mass allen Übels ist. Und obwohl der Bundesrat für seine Politik keine legale Grundlage hatte ausser einem Epidemiegesetz, nach dem Massnahmen angeordnet werden "können", wenn sie "erforderlich" und "zumutbar" sind.

Es hat sich also eine Art Friedensschluss mit dem Staat ereignet, jedoch nur für kurze Zeit. Das Mass war bald voll, undUnruhe breitet sich aus. Niemand hört gern, dass eine lange Zeit des Regierens mit Notverordnungen bevorsteht. Im Fall von geschlossenen Museen ist das bestimmt bedauerlich, bei Absagen von Bierfesten wohl weniger.

Es geht um viel: um Gesundheit, die einen Wert von hoher Bedeutung darstellt. Dabei muss man sich sofort fragen, was sich hinter dieser Behauptung noch alles verbergen könnte. Weil jeder Schritt, jeder Herzschlag, jede Vitalfunktion gemessen wird, gehören Schrittzähler, FitBits und sämtliche Aktivitäts-Tracker, die auf dem Markt zu finden sind, ebenso wie Sportbekleidungsmoden zum Equipment des modernen Zeitgenossen in der avancierten Gesellschaft. Das heisst implizit, dass hier ein profitables Geschäft zu machen ist, nach dem Pharmaindustrie, Medizinalindustrie, Versicherungsindustrie, Sportindustrie und Spitalindustrie gern die Hand ausstrecken. Alle bieten gern ihre Dienste an.

Vorbereitung auf die Abwehr des kommenden Aufstands

Zum Einsatz für die Gesundheit gehört in Zeiten des Coronavirus auch, dass Verbreitungswege verfolgt werden und alles getan wird, um die weitere Ausdehnung einzudämmen. Das kann auf verschiedene Weise erfolgen, zum Beispiel durch eine App auf dem Smartphone, mit der registriert wird, wer mit wem in Kontakt gekommen ist. Eingetretene Infektionen werden dann in Realtime sofort an andere Apps in unmittelbarer Nähe gemeldet.

Was sich einerseits wie eine Chance bei der Bekämpfung der Epidemie aussieht, stellt sich andererseits als Vorbereitung auf eine kommende Massenüberwachung heraus. Noch kann die App freiwillig eingesetzt werden, aber niemand wird ausschliessen wollen, dass aus der Weiterentwicklung solcher Techniken sich eines Tages neue Anwendungsmöglichkeiten ergeben. Es sieht manchmal aus, als würden die technischen Fortschritte die Eigenschaft aufweisen, sich in ihr Gegenteil zu verkehren und einen anderen, nicht vorausgesehenen Nutzen anbieten.

Wenn die Ungeduld steigt, dann aber auch deshalb, weil alle Menschen eine explizite eigene Meinung haben, die zu allen übrigen im Widerspruch steht; und weil es demzufolge einem heute weit verbreiteten Standpunkt entspricht, dass niemand mehr sich etwas sagen lassen will.

Konsens ist kaum noch möglich. Auch unter Fachleuten und Experten nicht. Gesichtsmasken tragen? Unbedingt! Nein, nutzlos. Das gleiche gilt für Zählungen der Corona-Toten, Impfungen und viele weitere, ganz andere Themen. So gross war das Stimmengewirr noch nie, und sich eine eigene Meinung erst noch zu bilden, wird zu einer anspruchsvollen, beinahe unmöglichen Sache. Ausser vielleicht dem einfachen Rat, sich zurückzuhalten und dem Satz Epikurs "Lebe im Verborgenen" anzuschliessen, der in unserer digitalen Transparenz-Gesellschaft sofort konterkariert wird.

Versteckter Sinn von Social Distancing 

Wird etwa der Empfehlung gegeben, "auf einander aufzupassen", kann das auch heissen, soziale Kontakte zu meiden und Grenzen zu schliessen. Ostern und Pfingsten soll nicht in den Kanton Tessin gefahren werden. Das ist schlecht für Rustico-Besitzer, die am Zweitsitz Steuern bezahlen, aber gut für den Kanton Tessin und sowohl gegen drohende Ansteckungsgefahr wie CO2-Austoss. Berliner werden aufgefordert, ihre Sommerresidenzen in Norddeutschland zu verlassen und umzukehren, wenn sie an ihren Autoschildern erkannt werden. Zwischen Texas und Louisiana sind die Grenzen dicht gemacht worden. Social Distancing hat sich, wie der italienische Philosoph Giorgio Agamben entsetzt erkannte, in ein "neues Organisationsprinzip der Gesellschaft" verwandelt: Exklusion, Isolation Versammlungsverbot. In Frankreich wird die Personenzahl bei privaten Zusammenkünften auf (nur) zehn beschränkt. Auch darin kann leicht eine Vorbereitung auf die Abwehr des kommenden grossen Ausnahmezustands erkannt werden.

Man sagt Gesundheit (was ein sozialer Gedanke ist), aber denkt für zukünftige Gelegenheiten an Kontroll- und Überwachungsmassnahmen (was etwas anderes ist). Wo verläuft die Grenze zwischen dem einen und dem anderen?

Der Lockdown war eine eindrückliche Staatskunde-Lektion, die für Europa im schlechtesten Moment kam, als sich auf dem Kontinent bereits bedenkliche Verwerfungen abzuzeichnen begannen. Etwa in Ungarn, wo ein vom Parlament erlassenes Gesetz dem Regierungschef Orban unbegrenzte Vollmachten erteilt hat, angeblich um die Epidemie zu bekämpfen. Das Gesetz erinnert in fataler Weise an das Ermächtigungsgesetz in Deutschland 1933, als Hitler an die Macht kam und die abschaffte. Orban bezieht jetzt von der EU, die er ablehnt, 5,6 Mrd Euro Hilfsgelder, um gegen den Virus vorzugehen, den er leugnet.

Divergierende Aussichten auf die Zukunft

Der US-Autor Francis Fukuyama, der einmal das Ende der Geschichte oder eher der freiheitlichen, demokratischen Staatsform verkündete, meinte seinerseits, dass in Pandemiezeiten ein "starker Staat" unverzichtbar sei. Wenn es so wäre, müsste es ein anderer sein, als er meinte. Der Ruf nach einem starken Staat ist meistens die letzte Station vor dem bösen Ende.

Wie der Corona-Staat ausgehen wird, ist nicht absehbar. Der Wunsch beziehungsweise der Druck, "zurück zur Normalität" zu kehren, lässt alles offen. Das Regime Gesundheit hatte kurz die Oberhand gewonnen, jetzt fordert das Regime Ökonomie seine kurz eingebüsste alte Vorrangstellung zurück und will en petit comité bleiben. Da bekommt der Begriff "Normalität" unerwarteterweise einen lieblichen Klang. Vieles ist ins Wanken geraten, und die Begriffe und dazu passenden Fakten müssen erst sortiert werden.

Eine Erweiterung des Blicks über den geografischen Horizont hinaus kann aufschlussreich sein, um in die Zukunft vorauszuschauen und zu verstehen versuchen, was mit Normalität gemeint sein könnte. Denn niemand weiss es.

Die Linke erwartet einen dezisiven Exit aus dem "Kapitalozän" (Harald Lech) und eine gerechtere Sozialordnung.

Die Ökologen stellen sich schon plastisch die Etablierung eines grünen Planeten vor. Man hat gesehen, wie viel in kurzer Zeit sich mit autoritären Mitteln erreichen lässt.

Die Populisten versprechen sich ein neues Europa à la Orban oder Savini, das von Linken, Liberalen, Demokraten, Intellektuellen, Medienvertretern und anderen "befreit" ist. In Michigan, USA, stehen die Milizen bewaffnet und in kugelsicheren Westen schon bereit, um die "geraubte" Freiheit zurückzuerobern. Angefeuert werden sie von US-Präsident Trump, der nicht aufgibt, das Land first und die ganze Welt second zu retten. Nur das Chaos, das er anrichtet, kann beitragen und ihm helfen, es zu besiegen.

Ebenfalls in den USA war das Grölen der Rechten und Rechtsextremen zu hören, die Schwachen sollten draufgehen und die Starken (das heisst die Wirtschaft, "the economy") leben. Das ist der Gipfel des Zynismus, auch wenn nur ein kleiner Bevölkerungsteil dahinter steht. Bedenklich ist jedoch, wenn ähnliche Ansichten, wenngleich in gemilderter Form, aus Deutschland kommen.

Die Evangelikalen sehen ein christliches Abendland oder eine Form von Gottesstaat im Kommen und halten unbeirrt, bis zum letzten Atemzug (oder Seufzer) zu Trump und Brasiliens Jair Bolsonaro ("Ich bin die Verfassung").

Die alte Ordnung kann nicht die neue sein

In der Schweiz hat die Wirtschaft durch Vermittlung des Bundes gerade Milliardengarantien erhalten und zugleich viele in bescheidenen Verhältnissen lebende Menschen entlassen. Als Folge der durch die Pandemie bedingten Steuerausfälle kommt der Vaterschaftsurlaub "zu teuer" zu stehen und soll rückgängig gemacht, dieMehrwertsteuer, die eine Konsumsteuer ist, dafür um 0,7 Prozent erhöht werden. Zugleich senkt der Kanton Zug die Steuern. Eigentlich alles klar.

Noch ein Beispiel, dann ist Schluss. Der Philosoph Peter Sloterdijk meinte in der französischen Zeitschrift "Le Point", aus dem Virus werde kein Chaos hervorgehen, sondern eher das "antiliberale Phantom der wiedergefundenen Ordnung". Also die alte Ordnung als neue, zu der nichts erforderlich ist als eine Autorität, die dazu berufen ist oder glaubt, es zu sein. Vielleicht hätte er im aktuellen Sprachgebrauch auch von einer "systemrelevanten" Ordnung sprechen können. Mit seiner politischen Unkorrektheit und Diabolie trifft Sloterdijk beim Schiessen immer wieder genau den Punkt, wo sich die Ideen von allein auflösen. Das kann sehr erheiternd sein.

Zurück zur Normalität heisst gar nichts. Es hat nie eine gegeben, höchstens eine Reminiszenz an die Verhältnisse, die gestern waren, mit alten Orientierungen und einem alten Opportunismus. Sie haben ihre Tauglichkeit eingebüsst, aber sind nicht verschwunden. Was sich abzuzeichnen beginnt, ist auch nicht gerade vielversprechend. Niemand weiss, was bevorsteht, und es wird nicht an uns liegen, es zu beeinflussen, sondern Sache derer sein, die nach uns kommen. Sie haben ein Recht darauf. Dass sie es besser machen werden, kann nur eine minime Hoffnung sein.

 

4. Mai 2020

 
 
 
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