Wirtschaftswachstum ist ein anderer unter vielen Begriffen, der durch seine enorme Verbreitung eine beinahe sakrale Geläufigkeit erlangt hat. Die quartalsweise publizierte Entwicklungskurve der Unternehmensgewinne ist in den Medien ein Thema der Andacht und ökonomischer Fortschritt der Schlüssel zum goldenen Zeitalter. Wachstum stellt sich als Glaubensbekenntnis heraus. Das damit verbundene Versprechen heisst mehr Wohlstand, wie er zum Beispiel auch in den Gründungsurkunden der EU vorgesehen war. Alles politische Denken und Handeln ist darauf ausgerichtet, Einwände sind ausgeschlossen. Wer käme bloss auf eine solche Idee?
Politik besteht darin, der Wirtschaft beizustehen, sei es durch Deregulierung oder Bereitstellung von steuerlichen Anreizen, so wie die Wirtschaft sich ihrerseits in den exklusiven Weihedienst der Shareholder-Klasse stellt (oder sie ihr Handeln auf diese Weise rechtfertigt). Es genügt bekanntlich, über die Strasse zu gehen, um Arbeit zu finden, meinte der französische Präsident Frankreichs, Emmanuel Macron, einmal zu einem Arbeitslosen. Es darf zur Not auch ein mieser Billig-Job sein, doch davon war nicht die Rede.
In Anbetracht der Lage wäre eine kritische Analyse des Begriffs unerlässlich. Wir haben schon alles, was wollen wir noch mehr? Das ist eine naive Überlegung, die die grossen Zusammenhänge nicht völlig erfasst. Doch offenbar verfolgt die Ideologie des Wirtschaftswachstums ganz andere und weitergehende, aber unausgesprochen bleibende Absichten. Die Aufgabe einer kritischen Analyse müsste darin bestehen, sie aufzudecken.
Zuviel Produktion, zu wenig Nachhaltigkeit
Am 1. August dieses Jahres haben die Menschen den für 2018 zustehenden Teil an der biologischen und ökologischen Kapazität des Planeten aufgebraucht und leben seither sozusagen auf Pump. Sie überziehen das Konto. Es war der Earth Overshoot Day. Der Erde bleibt keine Zeit zu Regeneration und massvoller Verteilung der Güter. Das heutige Wirtschaftssystem betreibt eine Überproduktion, die über die verursachten Kosten hinausgeht: Zuviel Aufwand, Verrichtungen, Ressourcenverbrauch, Verschleiss, Umsatz, Zirkulation, Abfall. Von Nachhaltigkeit kann keine Rede sein.
Wenn wir an die Gewinnung von Rohstoffen, Bodenschätzen und landwirtschaftlichen Erzeugnissen denken, müsste uns in den Sinn kommen, in welchem Ausmass die westliche Welt die Natur in den übrigen Teilen der Welt ausbeutet und zerstört, zum Beispiel die tropischen Wälder, um Soja oder Biotreibstoff zu produzieren, so dass man sagen kann, der Westen fresse die Lebensgrundlage der in der restlichen Welt lebenden Menschen mit Stumpf und Stiel auf. Die soziale Symmetrie oder gar Gerechtigkeit bleibt auf der Strecke. Verhältnisse wie in den sogenannten Entwicklungsländern breiten sich langsam auch hier aus. In unserer Zeit ist China mit seinem enormen Ressourcen- und Materialbedarf hinzugekommen.
Ursachen der Ungleichheit auf der Welt
Was feststeht, ist die Tatsache, dass alle Bestrebungen, das Wirtschaftsvolumen zu steigern, etwa durch Globalisierung des Handels und durch Freihandelsverträge der Staaten untereinander, wie sie heute zu Lasten demokratischer Grundrechte durchgeboxt werden sollen, mehr Schaden anrichten als Vorteile bringen. Mehr Produktion, mehr Gewinn ist gut, also voraussetzungslos gerechtfertigt. Die verheerenden Folgen der gegenwärtigen Entwicklung bleiben unerwähnt. Der französische Soziologe Emmanuel Todd hat kürzlich mit ebenso radikalen Worten wie überraschend klingenden Argumenten diesen Umstand kritisiert.
In einem fulminanten Gespräch mit ihm, das der französische “Figaro“ veröffentlicht hat, wies Todd auf die wachsende und immer eklatanter sich ausprägende soziale Ungleichheit hin, die aus der forcierten Wirtschaftsentwicklung und dem angestrebten Wachstum hervorgeht. Warum hat das noch niemand begriffen? noch niemand so deutlich und direkt ausgedrückt wie er? Todds Abrechnung mit der gegenwärtigen Kursrichtung der Wirtschaftspraxis hörte sich wie der zögerliche Auftakt zu einem bevorstehenden grundlegenden Sinneswandel an. Schön wärs. Tatsächlich müssen wir einen neuen Diskurs suchen und eine ganz neue Orientierung befolgen.
Dass die Verhältnisse so bleiben, wie sie sind, daran kann nur die Wirtschaft selbst ein Interesse haben, niemand sonst. Je mehr Wachstum sie verspricht und anstrebt, desto krasser fällt das soziale Gefälle aus und nimmt der Einfluss zu, den die Wirtschaft auf die Menschen ausübt, auf ihren Lebenswandel, ihr Denken, auf die Sinngebung, bis in die filigranen Bereiche ihres täglichen Verkehrs. Das selbe gilt auch für den Einfluss der Finanzwirtschaft auf die Menschen. Diese Entwicklung ist von einem grossen Teil der Menschen durchaus erwünscht und wird wie ein sportiver Wettbewerb geführt. Die Rendite ist, was für den Beweis der Richtigkeit dieser Meinung gehalten wird.
Der überwiegende Rest jedoch erfährt den Lauf der Dinge mehr als eine Treibjagd. Die Menschen müssen sich ununterbrochen umstellen, anpassen, auf veränderte Vorgaben eingehen. Statt dass sie in Ruhe ein Bierchen trinken können, geht die Überforderung durch immer neue Anforderungen weiter und weiter, bis zur Erschöpfung. Muss das sein? Natürlich müssen wir jöbblen, um unser Dasein bestreiten zu können, aber das ist zuallererst eine Frage der Verhältnismässigkeit und der Verteilung. Zeit zu haben ist auch ein Gewinn. Das war es, was André Gorz meinte, als er schrieb: „Das 'wahre' Leben beginnt ausserhalb der Arbeit; Arbeit wird ein Mittel zur Erweiterung der Sphäre der Nichtarbeit, sie ist zeitweilige Beschäftigung, die die Individuen in den Stand setzt, ihren hauptsächlichen Interessen und Neigungen nachzugehen“ – so in seinem 1980 erschienen Buch „Adieu au proletariat“ (deutsch „Abschied vom Proletariat“, 1980), in dem er wuchtig gegen die klassische linke Arbeitstheorie verstiess. Das war vor bald 40 Jahren und ist immer noch aktuell – oder heute überhaupt erst begreifbar geworden.
Die durch die Turbo-Produktion entstehenden Schäden, die etwas anderes als Kollateralschäden sind, gehören weder in den Kompetenzbereich der Wirtschaft noch des Kapitals. Oberste Priorität hat, wie stets, das Interesse von Kapital und Wirtschaft. Das ist der Massstab. Alles andere ist Selbstdarstellungs-Publizität.
Vollbeschäftigung als Drohung
Jedes Mal, wenn von Vollbeschäftigung die Rede ist, erschrecke ich und denke an eine Drohung. Das Urteil lautet: Noch mehr Büez, noch mehr Maloche, noch mehr Schufterei, lebenslänglich. Kann dies das Ziel des Menschenlebens und des kurzen Aufenthalts auf diesem Planeten sein? Schwer vorstellbar.
Das Problem stellt sich differenziert dar. Warum wird Arbeit als kostbares Gut angesehen? Worin liegt ihre Zweckbestimmung? Warum wird sie mit soviel unerbittlichem, rasendem Eifer betrieben? Workaholics sind keine Figuren aus einer Sitcom, sondern Sozial- und Krankheitsfälle und das Ergebnis von immer grösserem Druck auf die Arbeitsleistung.
Zuallererst stellt sich die Frage, worin überhaupt die Zweckbestimmung der Arbeit liegt? Im Christentum lag die Antwort während zwei Jahrtausenden im Fatum, dass die Menschen im Schweiss ihres Angesichts ihr Leben fristen mussten, aber nur deshalb, weil Überleben das Problem war. Davon waren die Menschen durchdrungen – es blieb ihnen auch nicht viel anderes übrig. Der moralische Imperativ lautetet: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Faulheit wurde zur Sünde erklärt. Die notwendigen Subsidien bereitzustellen war Aufgabe für ein ganzes Leben, erst recht, als die protestantische Ethik erklärte, dass Arbeit, Erfolg, Wohlstand gottgefällig seien (eine Art Selbstschmeichelei derer, die es betraf). Es gab also keinerlei Möglichkeit, sich in den Schatten zurückzuziehen und das Leben von der leichten Seite zu nehmen. Soweit erscheint das zur Not verständlich.
Heute ist damit jedoch kein Staat mehr zu machen, erst recht nicht, seitdem durch Automation immer mehr Arbeitsstellen wegfallen, auf die die Menschen in der Vergangenheit angewiesen waren, um ihr Leben zu bestreiten. Sollte die wachsende Entbehrlichkeit der Arbeit in unserer Zeit tatsächlich zutreffen, wofür vieles spricht, dann gibt es dafür andere Lösungen und andere Modelle der Lebensfinanzierung.
Dass Maschinen die Arbeit übernehmen und erledigen, davon war zum Beispiel der englische Schriftsteller Oscar Wilde überzeugt. Damals gab es das Problem der Massenarbeitslosigkeit nicht, und Wilde konnte sich als leuchtende Vision vorstellen, dass, während die Menschen schliefen, die Maschinen fleissig (und sozialkostenfrei) arbeiteten und die Menschen, wenn sie am folgenden Morgen aufwachten, sich edleren Tätigkeiten hingeben würden. „Musse, nicht Arbeit ist das Ziel der Menschen“, legte Wilde in seinem berühmten Essay „Der Sozialismus und die Seele des Menschen“ aus dem Jahr 1891 dar – wie Gorz weiter oben.
Übrigens hatte schon Karl Marx mit visionärer Hellsichtigkeit der Maschine beziehungsweise Automation die selbe Rolle zugedacht, so im Aufsehen erregenden „Maschinenfragment“, jedoch diesen Gedanken in seinem Werk nicht weiter verfolgt, weil kaum jemand ihn damals verstanden hätte. Seine Ideen über die Emanzipation der Arbeit sind Fragment geblieben.
Fabrik und Biopolitik
Umso deutlicher hat dafür Paul Lafargue die Zukunft der Maschine vorausgesehen und als sich daraus ergebende Folge das „Recht auf Faulheit“ programmatisch abgeleitet (so der Titel seines schlagfertigen Essays aus dem Jahr 1883; soweit muss man zurückblättern). Bekanntlich war Lafargue der Schwiegersohn von Karl Marx, und es ist unendlich bedauerlich, dass die Aufzeichnungen über seinen Schwiegervater darüber keinerlei Auskunft geben. Es wäre zu spannend gewesen, einer Diskussion von beiden über das Thema beizuwohnen.
Arbeit sei, so sagte Lafargue, die Ursache des geistigen Verkommens und der körperlichen Verunstaltung des Arbeiters. „Die modernen Werksstätten sind ideale Zuchthäuser geworden“, konstatierte er. Übrigens nicht völlig verschieden vom französische Philosophen Michel Foucault, der in einer etwas entspannteren Verfassung die Fabrik neben anderen Institutionen (Kaserne, Spital, Gefängnis) zu einem zentralen Ort der Biopolitik und der Disziplinargesellschaft erklärt hat (Arbeit als Erziehungsmethode mit normativer Vorgabe, so in seinem Buch „Surveiller et punir“, 1975, auf deutsch „Überwachen und Strafen“)-
Wir müssen also, wenn wir dem überrissenen, geradezu abgründigen Wachstums- und Fortschrittseifer Einhalt gebieten wollen (was eine sinnvolle Sache wäre), die Ansprüche generell reduzieren (aber nur sehr wenig) und eine „Resistance Economy“ betreiben, wie sie der Schweizer Journalist Peter König in Übereinstimmung mit anderen Anti-Ökonomen im kanadischen Portal „GlobalResarch“ umrissen hat. Beherzigenswert. Zeit zum Umdenken. Wir sind schon auf dem Weg, wenn man nur etwa an die Plattform-Ökonomie denkt (für clevere Bürschchen) oder an die Zukunft der digitalen Arbeit im Postkapitalismus sowie die Allmendeproduktion, wie sie Paul Mason, der englische Theoretiker des Neo- oder Nach-Marxismus, entworfen hat. Aber am Ziel angekommen sind wir noch nicht.