Zwanzig Lektionen für den Widerstand gegen die Tyrannei hat der amerikanische Historiker Timothy Snyder in einem kleinen Buch zusammengefasst (bei C. H. Beck erschienen). Tyrannei meint er in einem politischen Sinn. Aber es gibt noch eine andere Art Tyrannei, die sich in der Art manifestiert, wie wir den Alltag verbringen.

Als Akademiker ist Snyder in seiner Ausdrucksweise eher verbindlich. „Sei bedächtig, wenn du eine Waffe tragen darfst.“ Darfst? Nun ja, das ist in Snyders Argumentationsweise eine schwierige Konstruktion, die darauf hinausläuft, dass aus Konformismus die schlimmsten Übel geschehen können.

Oder er sagt: „Engagiere dich für einen guten Zweck.“ Einverstanden, ein guter Zweck ist immer eine gute Sache. Zum Glück geht Snyder über solche Nettigkeiten gelegentlich hinaus. „Bleibe ruhig, wenn das Undenkbare eintritt.“ Schon beim Gedanken an das Undenkbare muss man ruhig, gefasst, unerschütterlich bleiben können.

Zutreffend ist auch die Lektion: „Praktiziere physische Politik“. Guter Gedanke. Mache es Dir auf der Couch oder im Sessel nicht allzu bequem, würde ich sagen, sonst wirst Du eine apathische Kartoffel. Erst durch physische Aktivität entsteht Widerstand als Form von Selbstbewusstsein und Selbstbehauptung.

Führe ein Privatleben“, ist eine andere Lektion. Schon der antike Stoiker Epikur empfahl seinen Anhängern, im Verborgenen zu leben. Aber wie soll das heute geschehen, wo der Staat seinen Bürgern und Bürgerinnen nicht über den Weg traut, sie auf Schritt und Tritt trackt und alles öffentlich zugänglich ist, das meiste jedenfalls, unser Konsum- und Intimleben eingeschlossen?

Auch fragen und überprüfen sollen wir. An dieser Stelle fällt mir der deutsche Schriftsteller Wolfgang Borchert ein, der, vom Zweiten Weltkrieg gezeichnet, nach Basel in die Schweiz kam, wo er 1947 mit nur 26 Jahren starb. In einem denkwürdigen Aufruf, der auch als Lektion über den Widerstand gelesen werden kann, schrieb er – nein, schrie er in die Nacht: „Sagt nein!“ Wenn sie – die Einflüsterer – kommen und euch was weiss ich was andrehen wollen, sagt nein und nochmals nein. Eine ähnliche Stelle kommt auch bei Snyder vor.

Borchert verfasste – auch er wie viele nach ihm – Protestliteratur, lange bevor es den Ausdruck dafür gab. Damals waren Durchhalteparolen gemeint; heute geht es um anderes. Geblieben ist die Widerstandsnotwendigkeit.

Wir werden um unsere Meinung gefragt, die nichts gilt. Wir sollen ein Spülmittel kaufen oder einen Sparvertrag abschliessen, obwohl wir beides nicht brauchen. Wir sollen glauben, was die Politiker und Werbeleute, oft kaum voneinander zu unterscheiden, uns weismachen. Vor allem sollen wir in uns gehen, dienstwillig zuhören und alles widerspruchslos hinnehmen – wenn sie uns damit wieder kommen, so erkläre ich, dann gibt es nur eines: Sagt nein; lasst euch nicht aus der Fassung bringen; braucht eueren eigenen Kopf; kommt ohne fremde, bezahlte Agenten und Lobbyisten aus.

Snyder sollte sofort einen zweiten Band schreiben gegen Kommerz, Werbung, Unterhaltung, Spasskultur, Anbiederungen, gegen den Schwachinn der Normalität, gegen die Aufregungen, die die Shitstorms verursachen. Darin liegt heute die wahre Tyrannei, der wir Tag für Tag ausgesetzt sind.

Wolfgang Borchert war ein mitreissender Sprachsetzer und ein kategorischer Aufbegehrer. Sein „Gesamtwerk“ in der erweiterten Neuausgabe ist bei Rowohlt erschienen und im Buchhandel immer noch erhältlich.