Paul Virilio, der französische Urbanist und Dromologe, ist ein Blitzdenker. Er addiert seine Argumente in einer Kadenz, die einem manchmal den Atem nehmen könnte. Man muss beim Lesen schnell mitdenken, erst durch die Geschwindigkeit der Gedanken nimmt die Aussage eine kommunizierbare Form an. Was auch nicht überraschend ist, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Geschwindigkeit eines von Virilios zentralen Themen ist. Dromologie ist die Bezeichnung für die Wissenschaft der Geschwindigkeit.

Je schneller sich alles ereignet und abläuft, desto mehr verändert sich beziehungsweise schrumpft der Raum. Genauso bleibt die Zeit im Moment ihrer maximalen Geschwindigkeit stehen. Mit dem Ausdruck „rasender Stillstand“ hat Virilio diesen Sachverhalt treffend umschrieben.

In Virilios neuester Veröffentlichung in deutscher Übersetzung, „Der Futurismus des Augenblicks“, geht er darauf ein, so pointiert und assoziativ wie immer. Die örtlichen Definitionen und Fixierungen werden zunehmend unwichtig, wir leben weniger im Raum als in der Zeit. Aber das stationäre Gefährt überholt das mobile und dynamische. Das will sagen: Nicht das Auto fährt, sondern der Raum. Die Bahnstationen entwickeln sich zu Städten und zugleich zu stationären Orten, wo die Menschen kommen und gehen, aber nichts zum Verweilen einlädt. Solche Feststellungen mit ihrem paradoxen Charakter, den Virilio zu lieben scheint, kommen einem zenbuddhistischen Koan gleich.

Die Stadt wird zur „Transitstadt“, zu „Ultrastadt“ und der Bewohner in der ortlos werdenden Welt zum Passagier. Das erinnert an den hintergründigen Satz des französischen Schriftstellers Saint-Pol-Roux: „Le voyageur sera voyagé“ (der Reisende wird gereist oder: Der Reisende ist die Reise selbst).

Wir leben in einem Zeitalter der allgemeinen Mobilmachung. Mit den Pendlerströmen fängt es an. Was Virilio mehr interessiert, sind die Migrationsströme, die heute in der Welt zu beobachten sind, die Umsiedlungen in China und das Problem der Wanderarbeiter, die Vertreibungen in Afrika, die Einwanderung in den Schengenraum. Das Elend in der Welt nimmt unter diesem Umständen immer mehr zu. Der Mensch wird zur humanen Ressource, wenn die natürlichen Rohstoffe ausgehen. Eine rasend gewordene Welt bekommt hier noch einen weiteren Sinn.

Virilio sieht das mit einem Entsetzen, das ihn tief bewegt. Er ist ein konservativer Denken, der nicht an eine bessere Zukunft glaubt, und dass die Entwicklung sich aufhalten liesse, ist unwahrscheinlich. Seine Aufgabe sieht Virilio darin, die Verhältnisse so deutlich wie möglich zu beschreiben. Dass dabei die alten Begriffe und Kriterien in einer sich schnell verändernden Welt nicht mehr viel taugen, wird schnell klar. Der andere Blick, den Virilio einnimmt, macht es erst möglich, die Lage der Welt besser zu durchschauen.

Paul Virilio: Der Futurismus des Augenblicks. Aus dem Französischen von Paul Maercker. Wien (Passagen Verlag) 2010. Fr. 18.90.