Nochmals Paul Virilio. Also gut. Er bleibt einer der klügsten Autoren (Schriftsteller, Urbanisten, Philosophen) unserer Zeit, der ein klares, brauchbares Konzept gefunden hat, um die Welt von heute – und von morgen, wenn der Fortschritt weiterhin in gleicher Weise verläuft – zu erklären.
Alles hängt bei Virilio von der Beschleunigung aller Entwicklungen ab. Je schneller sie erfolgen, desto mehr schwindet der Raum. An dessen Stelle entwickelt sich die Zeit zu einem „Milieu“. Das ist eine von Virilios ebenso enigmatischen wie hellsichtigen Feststellungen. Der Weg führt von der Echtzeit zur Weltzeit Die Demokratie ist durch die Eisenbahn befördert worden, aber sind Transportmittel und Geschwindigkeitsrekorde immer noch eine günstige Voraussetzung für die demokratische Praxis?
Virilio bezweifelt es. Er ist vom Skeptiker zum Pessimisten geworden, zum Warner. Im Gespräch „Cyberwelt“ mit Philippe Petit sieht er in den Beschleunigungstechnologien eine Form des Krieges. Dazu gehört auch die Information, die mehr denn je der Überwachung der Bevölkerung dient (Kommando, Kontrolle, Kommunikation). In dem Sinn verstanden: Wer die Information beherrscht, erwirbt Macht und dominiert die Bevölkerungen. Die Bombe ist die totalitäre Information. Auch sie unterliegt einer progressiven Beschleunigung.
Virilio zieht die Sehmaschinen vom Fotoapparat über den Film bis zu den in Echtzeit übermittelten Kriegshandlungen heran (in Erinnerung ist noch die Beschiessung und Tötung von 12 irakischen Zivilisten durch einen US-Apache-Helikopter im Jahr 2007 und die dabei gemachten Aufnahmen der Bordkameria zum Triumphgeschrei der Apache-Besatzung), um von einer Suggestion und Unterwerfung des Fernsehzuschauers unter die Macht der immer schneller zirkulierenden und jederzeit verfügbaren Bilder zu sprechen. Der Erkenntnisgewinn ist dabei minim, eher entspricht er einer Militarisierung der Welt.
Heute, meint Virilio, sei die Freiheit „nicht durch Verbote bedroht wie zu Foucaults Zeit, als man die Menschen ins Gefängnis einsperrte, damit sie sich nicht fortbewegen können. Heute sperrt man sie in der Schnelligkeit und Belanglosigkeit jeder Bewegung ein.“
Die weltweite Echtzeit und omnipräsente Gegenwart „verlangen vom Menschen einen Reflex, der schon in den Bereich der Manipulation fällt“, stellt Virilio fest.
Und jetzt lauf! Je schneller Du läufst, desto mehr bist du gezwungen, noch einen Zahn zuzulegen. Bis Du am Ende auf der Strecke bleibst, die aber in Wirklichkeit unter den Füssen auch allmählich verschwindet, je mehr der Raum durch die Akzeleration schrumpft (siehe oben).
Eine Schubumkehr wird es nur „Nähe“ geben – ein von Virilio oft verwendeter Begriff. Nähe stellt den Raum neu wieder her, aber Virilio meint damit auch neue Formen des Miteinanders der Menschen. Das wäre für Virilio klar das bessere „Milieu“.
Paul Virilio/Philippe Petit: Cyberwelt, die wissentlich schlimmste Politik. Merve Verlag. Fr. 22.90.