Der französische Philosoph Michel Onfray hat Sigmund Freud in einer Weise demontiert und dekonstruiert, dass kein Stein auf dem anderen geblieben ist. An radikaler wie temperamentvoller Angriffslust ist Onfray unüberbietbar, und die psychoanalytische Gemeinde hat es ihm auch gehörig heimgezahlt. Ungeachtet dessen hat Onfray 135‘000 Exemplare seines Buchs in Frankreich verkauft; inzwischen dürften es bereits wieder wesentlich mehr sein.

Onfray wirft Freud vor, ein pessimistisches, reaktionäres Menschenbild zu vertreten; sich selbst in einem vorteilhaften Licht zu zeigen und zu diesem Zweck alles Abträgliche eliminiert zu haben; die Psychoanalyse als Wissenschaft dargestellt zu haben – als Universaltheorie –, während sie in Wirklichkeit Freuds Autobiografie und eigene Familiengeschichte ist (mit der Tragödie seiner Tochter Anna).

Ausserdem ist Freuds Psychoanalyse eine idealistische, in Platons Höhle entstandene Konstruktion.

Das Wichtigste wahrscheinlich ist ihr hermetischer und insofern doktrinärer Charakter. Kritik wird weder zugelassen, noch ertragen. Dass man an die Psychoanalyse glauben muss, teilt sie mit der Religion (die Freud selbst als „Illusion“ ablehnte).

Was Freud suchte, fand er regelmässig mit der grössten Treffsicherheit, meistens in der Masturbation als Ausgangspunkt von inzestuösen Phantasien, Neurosen, Depressionen und so weiter. Die verdrängte Masturbation sei gewissermassen Freuds "Steckenpferd" gewesen und die "Kinderkrankheit" der Psychoanalyse, meint Onfray sarkastisch.

Der „sophistische Block“ unterdrückt jeden Einwand. Das heisst, dass die Psychoanalyse unanfechtbar ist und in jedem Fall recht hat, auch wenn das Gegenteil der Fall ist. Wird sie abgelehnt, beweist dies, dass eine Verdrängung und Neurose dessen vorliegt, der sie in Zweifel zieht.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Vertreter der psychoanalytischen Gemeinde bilden eine verschworene Gemeinschaft – provokant gesagt: eine Sekte. Freud war im besten Fall ein Guru. Noch mehr war er ein Scharlatan und Kurpfuscher (siehe den Fall Emma Eckenstein).

Neu ist nicht alles, was Onfray auf über 500 Seiten ausbreitet. Warum also schrieb er das Buch überhaupt, fünf Jahre nach Veröffentlichung des „Livre noir de la psychanalyse“? Ist die Psychoanalyse heute noch aktuell? Im therapeutischen Zeitalter allerdings schon, muss man annehmen. Aber dazu setzt Onfray ein grosses Fragezeichen.

Es geht ihm um zweierlei: erstens um eine Methode – um einen „Discours de la méthode“ –, und zweitens um die Verteidigung eines offenen, materialistischen, im Sinn Nietzsches "fröhlichen" Denkens. Das lässt sich aus seinem übrigen Werk ableiten, etwa seiner „Contre-histoire de la philosophie“ oder seinem „Traité d‘athéologie“ („Wir brauchen keinen Gott“, 2006).

Onfray unterzieht Freuds Werk statt einer strukturellen einer historisch-kritischen Interpretation. Es als Text ohne Kontext zu lesen, bringt nichts. Weitaus ergiebiger ist es, die biografischen und zeitgeschichtlichen Umstände mit zu berücksichtigen, um Aufschluss zu erhalten.

Dafür hat Onfray 10‘000 Seiten zur Vorbereitung gelesen: Freuds Schriften natürlich, die Literatur über ihn, aber mit besonderem Scharfblick auch die Briefwechsel, in denen Freud sich ohne Verstellung darstellte, anders als in seiner „Selbstdarstellung“ und im „Kurzen Abriss“.

Das Resultat gibt Aufschluss über einen Mann, der als grosser Aufklärer angesehen wird, weil er zum Beispiel die Sexualität in die Philosophie eingeführt hat, der jedoch in Wirklichkeit das genaue Gegenteil war: ein Vertreter einer elitären und rückwärts orientierten Weltanschauung. Seine eigene Sexualität war mehr als problematisch, aber zum Thema in Sinn einer Gewissenserforschung an sich selbst hat er sie nie gemacht.

Das alles musste Michel Onfray, den materialistischen Denker, Hedonisten und Aufklärer in der Tradition Rousseaus und Condorcets, auf den Plan rufen. Seine Auseinandersetzung mit Freud liegt jetzt in deutscher Übersetzung von Stefanie Singh vor und korrigiert die Legenden, die sich um den Begründer der Psychoanalyse gebildet haben.

Michel Onfray: Anti-Freud. Die Psychoanalyse wird entzaubert. Knaus. 539 Seiten. Fr. 39.90.