Wenn man versucht, die Alpen als Archiv zu betrachten, gehen sie weit über eine athletische oder ästhetische Bedeutung hinaus. Man erkennt dann, dass sie mit sehr vielem zu tun haben, mit Literatur, Kunst, Religion, Geschichte, Naturwissenschaft – mit Kulturwissenschaft im weitesten Sinn.

Vor allem einen literarischen Zugang suchen die Herausgeberinnen des Bands „Über Berge. Topographien der Überschreitung“. Dass manchmal der Eindruck entsteht, ein paar Freunde und Freundinnen hätten beschlossen, wir machen zusammen ein Buch, ist nicht gravierend, auch nicht weiter störend. Herausgekommen ist ein Werk von einer enzyklopädischen Dimension.

„Über Berge sprechen heisst immer auch, über Berge hinauszugehen“, schreiben die vier Herausgeberinnen. Anders ausgedrückt, kann das auch heissen: Wer über Berge spricht, meint meistens etwas anderes, weil Berge nur die Objektivierung einer Anschauung sind, die thematisiert werden soll.

Zunächst ist der Berg nicht viel mehr als eine materielle Tatsache. Erst wenn er konzeptualisiert und textualisiert wird, gelingt es, ihn zu einem Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung, des ästhetischen Vergnügens und des epistemologischen Interesses zu machen.

Die Besteigung des Berges ist der Vorgang einer Erhebung, auch einer physischen, aber ganz besonders einer geistigen wie im Fall von Giordano Brunos Aufstieg auf den Vesuv beziehungsweise den heimatlichen Berg Cicala oder von Petrarcas Begehung des Mont Ventoux 1336. Auf Petrarcas Erlebnis wird im Buch wiederholt Bezug genommen, obwohl bekannt ist, dass es eine inszenierte Selbstdarstellung war, eine „Realallegorie, die dem Gang des menschlichen Lebens seine Signatur gibt“, wie Karlheinz Stierle schreibt.

Ausserdem wird der Berg und, in einem erweiterten Verständnis, der Anblick der Landschaft wie die Wiedergabe innerer Seelenzustände gelesen. Was der Mensch in seinem Inneren sucht, dem begegnet er in der Landschaft ausserhalb von ihm, in der er sich selbst widererkennt, wenn er wie in einen Spiegel in sie hineinschaut. Gezeigt wird das an Rousseau, Stendhal, Chateaubriand, Maupassant, Gracq – überraschend viele französische Autoren sind hier versammelt.

Einen überraschend eigenen Weg hat Susi Frank in ihrer Berg-Interpretation gewählt und beschritten. Sie schlägt zwischen dem Boom der Erstbesteigungen vieler Alpengipfel um 1860 einen Bogen zu den Versuchen der Eroberung des Nordpols um 1900 und sieht in der „Mythopoetisierung des Nordens“ einen Selbstermächtigungskampf des Menschen ebenso wie eine „Konkretisierung des Menschenbildes der Moderne: der Mensch bezwingt die Natur und erhebt sich über sie“. (Selbstermächtigung ist ein Ausdruck, der im Buch wiederholt vorkommt.)

An die Stelle des Berggipfels von einst als Göttersitz ist der Nordpol als „Weltgipfel“ getreten. Der alte Schrecken ist verflogen, gewonnen worden ist dafür der sportliche („postheroische“ beziehungsweise „touristische“) Genuss der Bergbesteigung.