Die Pariser Metro ist ein riesiges schlafendes und träumendes Gehirn. Die Zugänge und unterirdischen Verbindungswege sind wie ein Netz von Neuronen, die Stationen und Knotenpunkt entsprechen den Synapsen, den Orten der Übertragung von Impulsen auf die Zellen.

Jedes Mal, wenn eine Zugskomposition einfährt, entsteht eine gewaltige Aufregung, ein Durcheinander, eine Konvulsion. Es ist der Augenblick, wenn die Neuronen feuern. Passagiere steigen aus, andere ein, sie begegnen sich nicht einmal, sie laufen nur aneinander vorbei. Zu sagen haben sie sich nichts, nie gibt es Zufallsbegegnungen. Wenn der Zug abgefahren ist, verlaufen sich die Passagiere schnell, und es kehrt Stille ein, aber nur für kurze Zeit, denn schon gleich treffen die neue Passagiere ein, die auf den nächsten Zug warten. Ihre Zahl nimmt laufend zu, in Tropfen oder Sturzbächen, solange, bis der Zug einfährt. Dann wiederholt sich der gleiche Vorgang.

In den Stationen eilen Menschen aus allen sozialen Schichten und ethnischen Zugehörigkeiten aneinander vorbei. Die Metro ist ein Nicht-Ort  (Marc Augé), ein Ort ohne genaue Lokalisierung und ohne eigenen Charakter, ein Ort, an dem sich, was eintrifft, sofort wieder auflöst. Eine erstrebenswerte Örtlichkeit zum genussvollen Verweilen ist sie zuallerletzt, eher ist sie zum Abhauen geeignet, zum Verschwinden. Nichts wie weg, so schnell wie möglich.

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Ort der erotischen Verführung

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Träumen in der Metro-Unterwelt

Niemand hat hier weder etwas zu suchen, noch etwas verloren. Eine Ausnahme machen höchstens die Clochards und SDF (“sans domicile fixe“), die Stadtstreicher, die keinen festen Wohnsitz haben, nirgends zu Hause sind und daher an diesem Durchgangsort einen ideal passendem Aufenthalt finden, wo sie gerade deshalb hingehören, weil es zu ihrem Los gehört, nirgends hinzugehören. Sogar die Bänke, wo sie sich einst zum Schlafen hinlegten, also zu einem nur provisorischen Verweilen ohne Aussicht auf einen dauerhaften Aufenthalt, sind durch unpraktische Einzelsitzgelegenheiten und zum Teil durch einfache Anlehnungsvorrichtungen ersetzt. 

Jetzt liegen die Clochards auf ausgelegten Kartonstücken auf dem Boden,  wie Abfall, der darauf wartet, weggeräumt zu werden. Wenigstens ist es warm hier und trocken.

Für alle anderen Menschen in diesem Labyrinth gelten andere Regeln. Alles kommt und geht beziehungsweise kommt, um zu gehen. Alles was geht, geht vorüber und ist vorläufig. Nichts bleibt. Die Metro ist ein Ort der Zirkulation, an dem die Strömungslehre mit ihren Gesetzen über Wassermengen, Fliessgeschwindigkeiten und wechselnde Pegelstände demonstriert werden kann. Sie ist auch ein Symbol der institutionalisierten Unruhe, der Mobilität, des Vergehens, das heisst des Weggehens, nicht der Schuld. Niemand macht sich hier schuldig, aber ein Zentrum der Unschuld ist die Metro auch nicht. Weder das eine, noch das andere gilt. Sie ist ein technischer Raum und erfüllt ihre Funktion in völliger Neutralität.

Dass sie tief unter der Erde liegt, macht sie noch geheimnisvoller, noch schwerer zu durchschauen als an der Erdoberfläche. Man kann sich in den unterirdischen Gängen verlaufen und gehörig die Orientierung verlieren. Die Wegweiser helfen nur bedingt weiter und geben Orte an, unter denen man sich nicht viel vorstellen kann, Porte d‘Orléans, Bir-Hakim, Créteil zum Beispiel. Sie geben keine Ziele an, sondern kanalisieren nur die Ströme von Menschen, als ob diese Namen die unergründliche Kapazität hätten, Menschen und Massen zu mobilisieren und zu steuern. Oder es ist die den Menschenströmen innewohnende, anonyme Eigendynamik, die diese Bewegung aktiviert und die einzelnen Elemente des Stroms, die sich von allen anderen Elementen durch nichts unterscheiden, ergreift und mit sich fortreisst, so als hätten sie keinen eigenen Willen, nicht einmal dann, wenn jeder einzelne Partikel eine Umlaufbahn und Destination hätte. Diese Positionsverschiebungsenergie gehört zur eigentlichen Bestimmung der Metro, auch wenn sie für die Masse selbst irrelevant und sowieso nicht ersichtlich ist.

Oben auf der Strasse sind die Abläufe des Lebens überblickbar, es gibt Strassen, Plätze, Fussgängerüberquerungen, Verkehrsampeln, Geschäfte, Werbeflächen, Wegweiser. Hier unten entziehen die Bewegungen und Sequenzen sich dem rationalen Verständnis, obwohl die Metrolinien und Verbindungsgänge doch wahrscheinlich einmal nach einem genial ausgeklügelten Plan zu einem sich perfekt immer weiter ergänzenden System angelegt worden sind.

Trifft in der Station eine Zugskomposition ein (auf Französisch „rame“, was soviel wie Ruder heisst und an eine Einrichtung erinnert, um Bewegung, Gang und Ablauf zu orchestrieren), kann sich ein unsichtbarer, aber aufmerksamer Beobachter in der Rolle eines fernen Gottes (was auf den verstecken religiösen Charakter der Metro hinweist) vorstellen, dass hier ein gewaltiger Transformations- und Transfusionsprozess stattfindet. Die Stationen sind gewaltig pulsierende Herzen und pumpende Lungenmaschinen, die einen gewaltigen virtuellen Organismus am Leben zu erhalten haben (was den versteckten medizinischen Charakter der Metro beweisen könnte; sie ist kein so totes Gebilde, wie man es sich zunächst vorstellen könnte).

Die unterirdische Metroanlage mit ihren unübersichtlichen Zugängen, Durchgängen, Tunnels, Treppen (Rolltreppen), Verbindungswegen, Verzweigungen, Unter- und Überführungen, Ausgängen weist die grösste denkbare Ähnlichkeit  mit dem labyrinthischen Netz der Gehirnwindungen auf, durch das die seltsamsten, fremdartigsten, unverständlichsten, groteskesten und zugleich allgemeinsten Gedanken fliessen, strudeln, verfrachtet werden, so wie die Passagiere, die sich in Gruppen, Paketen und Schüben durch die Gänge und das Labyrinth der Metro wälzen, nach allen Seiten verteilen und laufend neu formieren.

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"Brulez tout": Das Fegefeuer

Wer sind die Menschen? Das lässt sich nicht sagen. Woher kommen sie, wohin wollen sie? Schwere Frage. Was bewegt sie? Das ist zum Beantworten die allerschwierigste Frage. Jeder und jede trägt ein Geheimnis mit sich, wie bewegend oder banal es auch sein mag. Aber offenbart wierd es nicht.

Vielleicht wollen die Menschen nur einfach morgens so schnell wie möglich zur Arbeit oder zu einer Verabredung fahrn und abends noch schneller wieder nach Hause kommen. Zum Denken bleibt keine grosse Gelegenheit. Die tägliche Transportion, die Ähnlichkeit mit einer Deportation aufweist (wie Paul Virilio erklärt hat), nimmt alle Kräfte in Anspruch.

Aber eine solche Annahme würde den riesigen Werbeplakaten, die sich in den Gewölben der Metrostationen wie ein tief liegender, zum Greifen naher Himmel über den Passagieren spannen, krass widersprechen.

Hier ist etwas im Gang geraten, das gigantisch ist. Nirgends ist der zum Konsumentenpassagier während des Wartens auf den nächsten Zug mit seinen Vorstellungen und Erwartungen sich selbst mehr überlassen und daher der Werbeindustrie schutzloser ausgeliefert als hier.

In der Metro werden Wünsche geweckt in einem unglaublichen Ausmass und Emotionen mobilisiert wie kaum an einem anderen Ort. Es geht um Traumferien, einsame Strände, blaues Meer und strahlenden Himmel als plakatives und paradiesisches Versprechen; um geheime Sehnsüchte; um den Glauben an die Möglichkeit von Erlösung aus den Zwängen des Normalo-Daseins; um kulinarische Genüsse, die an das Schlaraffenland denken lassen; um elektronische Geräte, die den Eindruck der Omnipräsenz wecken; um Schnäppchen, die versprochen werden: 3 für 2. „Remboursement 100 %“: alles wird reversibel gemacht, vergolten, ausgeglichen. Dazu passt es, dass es nirgends in der Metro Uhren gibt. Die Zeit ist nicht nur angehalten, sie ist aufgehoben. Die Werbeplakate für Ferienparadiese dominieren und sprechen eine doppelte Sprache. Der paradiesische Zustand stimmt mit der Ewigkeit überein. Auf einem Plakat mit Billig-Holzmöbeln hatte ein Passant die sinnige Aufforderung angebracht: „Brulez tout“ (Verbrennt alles). Auch das Fegefeuer ist nahe.

Nicht zu vergessen die auf Schritt und Tritt auftretenden erotischen Signale, Proklamationen und Botschaften, die auch bei aller Direktheit als versteckte Energie an diesem Kraftort wirksam sind. Werbung für Dessous, für Parfums mit verführerischen halbnackten Frauen und virilen Männern sind direkte, aber in ihrer Direktheit geschickt umgeleitete (sublimierte) Appelle an das Unbewusste, das an diesem geheimnisvollen Bedeutungsort eine Potenz entfaltet, die das Fassungsvermögen übersteigt. (Sonst würden diese Plakate kaum hier hängen.)

Die Metro ist ein Traumort, aber nicht im Sinn eines einzigartigen, zwar ersehnten, jedoch unerreichbaren Ortes, eines Versprechens, eines geheimnisvollen Schangri-La, sondern eines Ortes, an dem geträumt wird und werden soll. Zu kaufen gibt es nichts, zu träumen, zu wünschen, zu ersehnen alles. Aufbruch zu fernen Horizonten. Das Paradies, das Schlaraffenland ruft! (mit Werbung für einsame Strände, Marmelade und so weiter).

Die fliessenden, zirkulierenden Massen, die an den Plakaten vorbeigespült werden, werden von der Energie, die von diesen Plakaten ausgeht (ausgehen soll, so ist es gemeint), angesteckt und vorangetrieben. Aber zugleich sind die Passagierströme selbst eine Energieprodukt, das sich in den Gängen und Windungen des unterirdischen Gehirns bewegt und zirkuliert. So bilden die Menschenströme, die träumen, und die Produktebotschaften, die die Menschen zum Träumen anstiften, ein perfekt kombiniertes Modell einer anonymen Traummaschine.

Die Rückkehr aus der Unterwelt in die Oberwelt ist ein enttäuschender Übergang in eine völlig konditionierte Ordnung, in der sich alle Menschen an die Konsumgewohnheiten, Verkehrsregeln, Abfahrtszeiten, Verhaltensnormen halten. Die Freiheit des Traums, des Begehrens; die Bereitwilligkeit, sich der Verführung auszuliefern; die Möglichkeit des Untertauchens, der zeitweisen Selbstauflösung und des Übergangs in einen Extasezustand, das heisst des Zustands, bei dem der Boden unter den Füssen schwindet – das alles ist unten in den Metrohöhlen, diesen Checkpoints der Emotionen, möglich. Dort am allerehesten. An der Oberfläche nicht.

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Rückkehr in die Oberwelt