Michel de Montaigne, der bedeutende Philosoph in der Geschichte Frankreichs des 16. Jahrhunderts, erhält in der Darstellung des Historikers Volker Reinhardt ein anderes, neues Leben. Er ist nicht mehr der nachdenkliche Zurückgezogene und Autor der "Essays", seines Lebenswerks, sondern wird von den Ereignissen der französischen Religionskriege zermalmt und bleibt als bewegende tragische Figur auf der Strecke.

Von Aurel Schmidt

Wenn Michel de Montaigne vom Denkmalsockel gestürzt sein sollte, dann hat ihn der Historiker Volker Reinhardt dabei noch ein bisschen gestossen. Von allein gefallen ist er nicht. Genauer gesagt: Reinhardt hat ihn in die Revision gegeben, und siehe: Wir haben es mit einem auffällig neuen – purgierten – Montaigne zu tun bekommen. Bonjour, Michel de Montaigne.

 

Montaigne Denkmal in Bordeaux

Einsamer Denker: Denkmal für Montaigne in Bordeaux
Alle Fotos Copyright Aurel Schmidt

Fangen wir bei den elementaren Kenntnissen an. Montaigne (1533-1592) war die überragende Gestalt im französischen Geistesleben des 16. Jahrhunderts, Reinhardt ist Professor für Geschichte an der Uni Fribourg. Er hat eine grosse Monographie über Montaigne geschrieben ("Montaigne. Philosophie in Zeiten des Krieges" bei C. H. Beck; vor nur einem Jahr ist von ihm am gleichen Ort schon eine fundamentale Voltaire-Biografie erschienen). Dass Reinhardt sich mehr für geschichtliche Zusammenhänge interessiert als für den überragenden Philosophen und Humanisten, ist für den Historiker verständlich. Die Zeiten waren mit den französischen Religionskriegen, als die Menschen sich für ihren Glauben abschlachteten, aufwühlend und grausam. Reinhardt geht in von Wissenschaft diktierter Zurückhaltung auf Aktualisierung nicht ein. Das muss zuletzt der Rezensent tun, und der fragt: Gibt es Parallelen zu heute? Ja, das liegt tatsächlich zum Vergleichen nahe: Religion als bellizistischer Grund.

Montaigne hat von einer philosophischen Position aus die Zeit, die seine eigene war, evaluiert und mit Entsetzen auf die Geschehnisse reagiert. Alle Annahmen, alle Gewissheiten mussten radikal in Frage gestellt werden. Montaigne erkannte, dass bei tausend Dingen das Für und das Wider gleich falsch war. Nichts hatte mehr Gültigkeit. Das ging zum Schluss so weit, dass er überlegte, ob nicht die Katze ihn anschaute, wenn er glaubte, der zu sein, der sie anblickte.

Diese Haltung stand bisher in allen Montaigne-Darstellungen im Mittelpunkt, etwa in der grossen Auslegung von Hugo Friedrich. Reinhardt beschreitet den umgekehrten Weg. Er geht nicht vom Humanisten Montaigne aus, sondern von den Zeitumständen und zeigt, wie Montaigne in die Ereignisse mit ihren unvorstellbaren, sinnlosen Grausamkeiten hineingerissen wurde; wie er versuchte, sich zu einem Vermittler zwischen den Parteien zu machen; dem dabei kein nachhaltender Erfolg beschieden war; und der sich am Ende enttäuscht in den legendären Turm, der zu seinem Schloss in der Nähe von Bordeaux gehörte, und in seine Bibliothek, seine "arrière-boutique" (sein Hinterstübchen), sein "Operationszentrum", wie Sarah Bakewell sagte, zurückzog und versuchte, die Welt zu verstehen. Auch da: ohne besonderen Erfolg.

Französische Religionskriege: Das Echo in den "Essays"

Während andere Autoren am Ende ihrer Überlegungen bei Montaignes Skeptizismus, unter Umständen einem heiteren Skeptizismus, ankommen, stellt Reinhardt bei ihm nur Versagen, Enttäuschung, Niederlage fest. Er präsentiert ihn als grosse, tragische Figur in einer zerrissenen Zeit. Das ist eine eher unübliche Perspektive, aber sie absolut überzeugend ausgeführt. Dieser niedergeschmetterte, gebrochene Montaigne ist bestimmt der stärkste Eindruck, den Reinhardts Buch hinterlässt. 

Beim Lesen des Buchs könnte sich manchmal der Eindruck einstellen, das Thema der französischen Religionskriege stehe in dessen Mittelpunkt und alles andere sei darum herum angeordnet. Das war wahrscheinlich sogar so so gewollt, weil es Reinhardt darauf ankam zu zeigen, wie die Ereignisse einer Epoche in der Lage sein können, auf den Einzelnen einzustürzen und ihn zu zermalmen. Man könne die drei Bände der "Essays" – Montaignes Lebenswerk – nicht richtig verstehen, wenn man nicht in der Lage sei, darin den Lärm des Zeitalters zu hören, schrieb der französische Autor Jean Lacouture in seinem Werk "Montaigne à cheval".

Den selben Weg schlägt auch Reinhardt ein, mit dem abweichenden Ergebnis, dass er das Zeitalter in eine spektakuläre Arena stellt, in der er die Protagonisten ihre Auftritte haben lässt: Egomane, Kriegsführer, Marschälle, Kanzler, Minister, Könige sowie einfache Überzeugte (religiöse Überzeugte, was alles noch schlimmer macht), die untereinander ihre Zwistigkeiten austragen und dabei das Fussvolk und die Menschen, die zu alldem nichts zu sagen haben, mit sich in den Abgrund reissen.

Auf der einen Seite steht das Sammelbecken der Katholiken, die Liga, die dem Glauben bedenkenlos alles opfert, weil es nur eine richtige Religion gibt; auf der anderen versammeln sich Hugenotten, Protestanten, Calvinisten, die in der Minderheit sind und für ihre Anerkennung kämpfen, aber dabei genau so erbarmungslos vorgehen wie ihre Gegner. Die Auseinandersetzung erreichte ihren Höhepunkt in der Bartholomäusnacht vom 23. zum 24. August 1572, in der von königlichen Truppen und einem entfesselten Mob ein Pogrom an den Hugenotten angerichtet wird. 25'000 Hugenotten wurden ermordet, bis 1594 weitere Tausende. Hinzu kommen die Gefallenen auf beiden Seiten in insgesamt acht Religionskriegen. Ruhe geben wollte keines der beiden Lager. 200'000 Hugenotten ergriffen die Flucht.

 

Turm

Der Turm von Montaignes Schloss, in dessen zweiten Stock
die legendäre Bibliothek des berühmten Philosophen eingerichtet war.
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Bibliotheksraum

Ansicht des Raums von Montaignes Bibliothek.  
Copyright Aurel Schmidt

König von Frankreich zur Zeit der Bartholomäusnacht war Charles IX, der den Auftrag zum Massaker gegeben hatte. Nach seinem Tod wurde sein Bruder Henri III Nachfolger, eine schwache Figur, die lieber Tänze aufführte und Frauenkleider trug als in den Krieg zu ziehen. Der grosse Heerführer der Katholiken war Herzog Henri III de Guise, eine einflussreiche, martialische Persönlichkeit. Auf protestantischer Seite trat vor allem Henri (gelegentlich als Henri III) von Navarra als Hugenottenführer hervor; dasKönigreich Navarra im Südwesten Frankreichs war eine Hochburg der französiswchen Protestanten. Aufgepasst: Verwechslungsgefahr. Zugegeben haben wir es hier mit einer verwirrenden Menge von Heinrichen zu tun, besonders von Heinrichen den Dritten. 

Von Henri III von Navarra zu Henri IV von Frankreich

Da Henri III (der König von Frankreich) keine direkten Nachkommen hatte, endete mit ihm das Haus Valois. Er einigte sich daher mit seinem Cousin, der niemand anderer als Henri III von Navarra war, darauf, dass dieser und mit ihm das Geschlecht der Bourbonen die französische Thronfolge antreten sollte (so wurde das damals ausgekungelt.)

Der Navarraner und spätere Bourbone hatte bereits eine abenteuerliche Laufbahn hinter sich. Kurze Rekapitulation: Sein Vater war katholisch, die Mutter calvinistisch. Erzogen wurde er im katholischen Glauben. Aus eigenem Entschluss trat er früh zum Calvinismus über. Um einen Friedensvertrag zwischen Katholiken und Protestanten, der 1570 geschlossen wurde, zu feiern, ehelichte der Navarraner am 18. August 1572 Margarete von Valois, die Schwester Charles' IX: Henri von Navarra Calvinist, Margarete katholisch. Für Zoff war gesorgt. Und tatsächlich: Nur fünf Tage später schlugen die Katholiken zu. Es war die Nacht vom 23. auf den 24. August, die berühmte Bartholomäusnacht, siehe oben. Compris? Alors bon, continuons. Henri von Navarra wurde von den Katholiken gefangen genommen, kam aber mit dem Leben davon, weil er eilends zum Katholizismus übertrat. Im Louvre wurde er in Hausarrest gesetzt, konnte jedoch nach drei Jahren fliehen, in sein heimatliches, hugenottisches Navarra zurückkehren und erneut zu seinem alten Glauben, dem Calvinismus, übertreten.

Es folgten Jahre, in denen Frankreich in Kriegswirren versank. Bis Henri III von Frankreich einem Mordanschlag zum Opfer fiel und Henri von Navarra wie vorgesehen die Thronfolge antreten sollte. Das kam nun aber gar nicht in Frage: ein Hugenotte, ein Protestant gar, als König im katholischen Frankreich. Erst als er bereit war, (abermals) zum Katholizismus überzutreten, konnte er von Henri (dem dritten) von Navarra Henri IV geworden, die Thronfolge von Frankreich antreten. Paris – die Königswürde – war wohl eine Messe wert, wird er sich gedacht haben. Reinhardt ist streng darauf bedacht, diesen geflügelten Satz nicht dem neuen Henri in den Mund zu legen, doch kann er sich dafür erlauben, die Sentenz in seinen eigenen Text einzuschleusen. Soll die Haltung Henri' von Navarra als Opportunismus bezeichnet werden? Vielleicht war es eher Realvernunft, wenn man den weiteren Lebenslauf als Henri IV verfolgt.

Denn der neue Henri (der Vierte) wurde zu einer der aussergewöhnlichen historischen Herrschergestalten Frankreichs. Er versöhnte die während Jahrzehnten verfeindeten Parteien, einigte Frankreich, sorgte 1598 mit dem Edikt von Nantes für Religionsfreiheit der Hugenotten und setzte sich für Wohlstand für alle in Frankreich ein, jede Familie sollte am Sonntag ein Huhn im Topf haben (noch so eine Sentenz) – ein vom Volk geliebter Monarch, der dem Land auf hundert Jahre hinaus Frieden bereitete. 1610 wurde er von einem fanatischen Laienbruder gemeuchelt.

Montaigne ebenso politisch wie nachdenklich

Und unser Michel Montaigne – wo ist er geblieben? Er hat sich vorübergehend diskret zurückgezogen. Doch siehe von neuem: le voilà, hier ist er wieder, in neuer Form. 

Im vierten Teil seines Buchs setzt ihn Reinhardt zurück auf das Denkmal, von dem er ihn gleich auf den ersten Seiten des Buchs herunter geholt hat, jedoch diesmal in einer soliden hieb- und stichfesten neuen Version. Auch die Anwürfe, mit denen er Montaigne am Anfang bedacht hat, zum Beispiel, dass er der "kunstvolle Fälscher seiner Biographie" gewesen sei, wirken zuletzt nicht mehr überzeugend. Es war für Montaigne von erster Bedeutung, dass alle, die mit ihm zu tun hatten, sich jederzeit bedingungslos auf sein Wort verlassen konnten. Aber dann zeigte sich im Verlauf der Realgeschichte, dass das nicht immer so einfach einzuhalten war und Montaigne sich genötigt sah, immer wieder Abstriche zu machen und Kompromisse einzugehen, sehr zu seinem Leidwesen. Die Realität war gebieterischer, als er sich vorgestellt hatte, was die gedrückte Stimmung wiedergibt, die Reinhardt am Ende seines Buchs Montaigne zuschreibt.

Wie auch immer, war Montaigne nicht nur der zurückgezogene Denker in seinem Turm, sondern ganz im Gegenteil jemand, der mitten in der Öffentlichkeit seiner Zeit stand, auf dem politischen Parkett mit Vermittlungsaufgaben betraut wurde, Kammeredelherr der Könige Charles IX und Henri III sowie persönlicher Berater Heinrichs von Navarra war. Als dieser dann als Henri IV das Land regierte, wollte er Montaigne an seinen Hof bestellen. Aber er winkte ab. Zu spät. Die Vorstellung war zu Ende. Er begnügte sich mit ein paar Ermahnungen an den neuen König. Das konnte er sich erlauben, was für seine Stellung spricht. Wäre es aber nicht besser gewesen, bei der Philosophie zu  bleiben und auf die politische Karriere zu verzichten? Doch was wäre dann von den Essays zu erwarten gewesen?

Zuletzt blieb ihm nichts zu tun, als sein Lebenswerk zu vollenden, zu verteidigen und für die Nachwelt zu retten. Zum Glück hat er genau das getan. Nur die Frage an Reinhardt bleibt offen, warum er weder auf Montaignes zentrale, an den antiken Stoizismus erinnernde Auseinandersetzung mit Sterben und Tod, noch auf seine wunderlichen erotischen Geständnisse, mit denen er sich selbst der Karikatur preisgab, eingeht. Nur ein aristokratisches Versteckspiel, wie zu Beginn behauptet? Gewiss dominiert bei Reinhardt der politische Montaigne, aber es gibt noch weitere Seiten bei ihm zu erkennen. So komplex, so divers war Montaigne am Ende dann doch. Aber das sollte nicht Reinhardts Thema sein.

 

7. März 2023