Vor hundert Jahren wurde der amerikanische Schriftsteller Jack Kerouac geboren. Sein Buch "On the road" (deutsche Übersetzung "Unterwegs") ist zu einem Klassiker der Literatur des 20. Jahrhunderts avanciert. Oldies lesen es noch zur Erinnerung. Jüngere Menschen ebenfalls?

Von Aurel Schmidt

Zu meinen wichtigsten Leseerfahrungen zwischen zwanzig und dreissig Jahren gehören die Bücher des amerikanischen Schriftstellers Jack Kerouac (1922-1969): "On the Road", "The Dharma-Bums", "Maggy Cassidy" und andere. Sie sollten sich als prägende Lektüren erweisen.

Es war die Zeit, als in den Vereinigten Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg eine junge Generation anfing, gegen den Way of life des Suburbia-Amerikas zu rebellieren und eine offene, enthusiastische, lockere Lebensweise durchzusetzen.

Der Hunger nach welthaltigem Leben war gross, und viele jüngere Menschen brachen auf, um sich neu zu orientieren. Im Rückblick gesehen, war ihre Zahl wahrscheinlich nicht so gross, wie es scheinen mag, aber doch gross genug, damit die Vorstellungen ihrer Anhänger sich zu einem Epochenereignis entwickeln konnten. Die Beat Generation mit dem Beatnik als zentraler Figur war als definierte Gesellschaftsschicht geboren, und literarische Ambitionen, eine Neigung zu Buddhismus und Zen-Buddhismus sowie eine Lust am Vagabundieren quer durch den nordamerikanischen Kontinent konstituierten den Typus des Beatniks. Leben war einfach. War das Geld ausgegangen, wurde gejobbt. Sich durchzuschlagen war das geringste Problem.

Zur selben Zeit machte ich auch die Bekanntschaft mit "Walden" von Henry David Thoreau und mit den lustvollen, weltumarmenden Büchern von Henry Miller, ebenso mit anderen Werken der amerikanischen Literatur, deren Einfluss und Bedeutung ich beim Lesen entdeckte. Man denke etwa an den Sehnsuchtston in Thomas Wolfes Romanen, an die Collage-Technik von "Manhattan Transfer" von John Dos Passos, an den sozialen Realismus von John Steinbeck und natürlich an die klare Stilistik von Ernest Hemingway. Zum Sound der Zeit gehörte die Musik besonders von Charlie Parker, aber auch von John Coltrane, Sonny Rollins, Coleman Hawkins, George Shearing und anderer Klassiker des Jazz.

Fiebrige Lebenserwartungen

Die Bücher von Kerouac lasen sich damals und lesen sich noch heute wie eine Beschreibung des amerikanischen Highway-Netzes. Mit dem Finger auf der Strassenkarte kann man die Wege verfolgen, die Kerouac beim Trampen zurücklegte. "On the road" erschien 1957. Ich las das Buch auf Englisch, so gut es meine damaligen Sprachkenntnisse überhaupt erlaubten. Die zerfledderte Taschenbuchausgabe in winziger Schrift auf eng bedruckten Seiten habe ich bis heute aufbewahrt und lese manchmal Passagen darin wieder, die mir besonders aufgefallen waren.

"You see, if you go like him all the time, you'll finally get it."

"Get what?"

IT! IT!"

Die Stelle ist ein schönes Beisiel für die fiebrigen Lebenserwartungen der Beat Generation. Die folgende ebenfalls:

We were all delighted, we realized we were leaving confusion and nonsense behind and performing our one and noble function of the time, move.

"Move" (Bewegung) bedeutet hier nicht motorische Bewegung, sondern signalisiert gesteigerten, pulsierenden Lebensrhythmus. Denn: "The road is life". Eine Intensität, eine Unersättlichkeit verschaffte sich hier Ausdruck, eine trunkene Euphorie, die nie, nie, nie genug kriegen konnte und nach mehr, mehr, noch mehr verlangte.

Vielleicht wird das alles etwas deutlicher einsichtig, wenn man berücksichtigt wird, dass Kerouac die erste Fassung von "On the road" auf einer Endlos-Rolle Papier innerhalb von drei Wochen in einem Rausch in die Schreibmaschine hackte, von Kaffee als Speed wach gehalten – eine wahrhaft physische Durchhalte-Leistung. Und die drei Schreibwochen für "On the road" waren ein Beispiel für Kerouacs spontanes Schreiben, das keinen nachträglichen Korrektureingriff erlaubte. Ein Vergleich zeigt aber, dass zwischen der Urfassung und der veröffentlichen Version starke Unterschiede bestehen. Seine exzessive Lebensweise hatte vielleicht vieles möglich gemacht, aber Kerouac hielt nur gerade 48 Jahr durch.

Etwas vom allgemeinen Rausch schwappte auch nach Europa über, nahm jedoch nie auch nur ansatzweise das Ausmass an wie in Amerika. Die Steigerung zum Höhepunkt der Bewegung mündete in den legendären Mai 1968, auf den schon bald der von den USA geführte mörderische Vietnamkrieg folgte, der alle Illusionen restlos zerstörte.

Kerouacs Bücher in einer neuen Werkreihe

Jetzt lese ich "The Dharma Bums", soeben erschienen in einer neuen Übersetzung von Thomas Überhoff. Die Neuausgabe ist Teil einer neu gestalteten Werkausgabe des Rowohlt Verlags von Kerouacs Romanen und umfasst mehrere Neuauflagen, neue Übersetzungen sowie die komplette Erstveröffentlichung von "Engel des Trübsals" ("Desolation Angels"). Der Grund für diese Flut ist einfach: Kerouacs hundertster Geburtstag fällt auf den kommenden 22. März dieses Jahres.

Der Titel heisst jetzt "Die Dharma-Jäger". Die nochmalige Lektüre nach vielen Jahren stellt sich, wenn man von Kerouacs Eitelkeiten und Saufereien absieht, als freundlicher Close encounter mit dem zweitwichtigsten Buch des Autors heraus, der massgeblich an der San Francisco Poetry Renaissance beteiligt war – zusammen mit Autoren wie Allen Ginsberg, Gary Snyder oder Lawrence Ferlinghetti, dem Gründer der City Lights Press, bei der viele Erstveröffentlichungen von Beat-Autoren erschienen sind, und dessen Buchhandlung das Zentrum der Bewegung bildete.

"Die Dharma-Jäger" beginnt mit einem Literatur-Fest, bei dem es high zugeht. Eine Bergtour, die Japhet Ryder und Ray Smith (Kerouac selbst), die beiden Protagonisten des Buchs, unternehmen, schliesst sich an: halb Initiation, halb Suche nach reiner Erfahrung. Den Schluss bildet der etwas kurz geratene zweimonatige Aufenthalt von Smith als Brandwärter auf Desolation Peak im North Cascades National Park im US-Bundesstaat Washington (Abbildungen des Lookouts sind bei Wikipedia einzusehen). Breiten Platz nehmen die Tramps von Ray Smith ein. Geschrieben ist das Buch in einem wilden, atemlosen Stil mit einem Cluster von an Haikus erinnernden poetischen Momentaufnahmen.

Die Frage, was das Buch der Leserschaft von heute gebe kann, stellt sich sofort. Jahrzehnte sind seit seinem Erscheinen vergangen, und die Welt ist eine andere geworden. Der amerikanische Dichter Gary Snyder, einer der letzten Verbliebenen, verbrachte mehrere Jahre in einem Kloster in Japan und kehrte 1955 in die Vereinigten Staaten zurück. Nach der Begegnung mit ihm wählte Kerouac ihn als "american saint" für sein Buch, das 1958 erschien. Heute ist Snyder 93 Jahre alt. Die Generation der Beatniks ist längst abgetreten. Aber geblieben sind die Bücher der Autoren, die ihre aufregende Zeit festgehalten haben, allen voran Jack Kerouac mit "On the road", das in einer historischen Perspektive nicht nur zum Buch einer Generation geworden ist, sondern verdient, als Jahrhundertbuch gelesen zu werden.

 

19, Februar 2022