Erst vor kurzem hat Carl Djerassi seinen 90. Geburtstag gefeiert und allen Grund gehabt hat, auf ein langes, mehr erfolgreiches Leben zurückzuschauen. Djerassi war Professor für Chemie an der renommierten Stanford University in Palo Alto, Kalifornien. Zu seinen grossen Lebensleistungen gehört die Entwicklung der Antibaby-Pille.

In seiner Autobiografie „Der Schattensammler“ (im Haimon Verlag erschienen) geht er auf die Folgen der oralen Kontrazeption ein, die den Lebensstil der Menschen beeinflusst und gründlich verändert hat, jedenfalls in den Ländern mit einer offenen Gesellschaftsform.

Die Entwicklung ist jedoch nicht stehen geblieben. Forschung und Praxis sind von der Empfängnisverhütung zur „assistierten Reproduktions-Technologie“ (ART) fortgeschritten. Das heisst, dass Samen und Ei kyrokonserviert (durch Kältetechnik erhalten) werden. Wird der Kinderwunsch aktuell, ist es ein Leichtes, ihn mit den modernen Reproduktionsmethoden zu erfüllen. Sogar eine Befruchtung post mortem ist möglich. Die Entwicklung hat also von der Kontrazeption zur Konzeption geführt.

Die Idee der Familie mit dem Ziel der Fortpflanzung ist damit überholt. Neue Beziehungsformen sind möglich geworden. Dass der Jude Djerassi für seinen Beitrag an die Wissenschaft als Nazi bezeichnet wurde, ist eine Ungeheuerlichkeit, die nur mit einer fundamentalistischen Einstellung zur Sexualität erklärt werden kann. Djerassi wurde 1923 in Wien geboren. Seine Eltern waren bulgarische Ärzte. 1938 floh er vor dem Nazi-Regime nach Amerika.

Im hohen Alter hat Djerassi als Schriftsteller eine zweite Karriere begonnen. Fünf Romane, neun Theaterstücke, Kurzgeschichten, zwei Gedichtbände sind von ihm erschienen und in 20 Sprachen übersetzt. In den meisten sind wissenschaftliche Fragen seines Fachgebiets das Thema. Damit will er zum öffentlichen Interesse an den Naturwissenschaften beitragen.

In Mexico hatte er in einem eigenen Unternehmen mit der vorbereitenden Forschung für die Antibaby-Pille ein Vermögen erworben. Es hat ihm viele Annehmlichkeiten verschafft, was er nicht verschweigt. Er ist Kunstsammler, hat vier Wohnungen in Palo Alto, San Francisco, London und Wien, denkt aber auch an junge nachrückende Künstler, denen er im Djerassi Resident Artists Program in den Bergen westlich von Palo Alto die Möglichkeit zu einem Arbeitsaufenthalt bietet.

Neben alledem hat Djerassi Zeit gefunden, sich auch mit Zuchtfragen von Bonobos zu befassen. In seiner Zeit in Mexico war ein Neffe des russischen Revolutionärs Leo Trotzki sein Student und Mitarbeiter. Und als er zur Uraufführung seines Stücks „Unbefleckt“ auf dem Weg von London nach New York war, wurde das Flugzeug nach Halifax umgeleitet. Es war der 11. September 2001. Ein Jahrhundertleben, kann man nur sagen, in dem Djerassi mit allen wissenschaftlichen, geistigen und politischen Fragen der Zeit in Berührung gekommen ist.

Dass er in seiner Autobiografie an seinem Denkmal arbeitet, ist unübersehbar. Er hat allen Grund dazu. Auf einer österreichischen Briefmarke ist sein Bildnis zu sehen. Nur Staatspersonen und tote Künstler kommen sonst dafür in Frage. Für Djerassi war es die Versöhnung mit seiner Geburtsstadt nach langer Zeit.